Seelenbrand (German Edition)
den Altar. Auch dieser lag in einem dämmrigen Schein. Die wenigen Sonnenstrahlen hier drinnen zwängten sich im Augenblick durch ein kreisrundes Glasfenster herein. Aus der Entfernung gesehen stand es wie ein Stern in der schwarzen, massigen Wand hinter dem Altar.
Er trat näher heran und betrachtete das phantastische Lichterspiel, denn die Sommersonne brachte das Glasbildnis auf wunderbare Weise zum Erglühen.
Die Szene aus der Bibel, die dort oben für alle leuchtete, kannte er: Maria Magdalena salbt Jesus die Füße mit Nardenöl.
Erst jetzt bemerkte er die schlanke Statue, die liebevoll von den Lichtfingern berührt wurde, nachdem sie dem blutroten Fenster entströmt waren. Sie stand auf einer hohen Säule, so daß sich ihre Füße genau vor seinen Augen befanden, den Totenschädel unter den Sohlen eingezwängt. Unmittelbar darunter war ein Name eingemeißelt: Maria Magdalena .
Fasziniert vom zufälligen Spiel der Lichtstrahlen, die ihn wie überirdische Fingerzeige durch dieses dunkle Labyrinth aus beängstigenden Vorahnungen und geheimnisvollen Botschaften zu geleiten schienen, machte er einen Schritt zurück. Und erst jetzt konnte er die Gestalt in ihrer ganzen Herrlichkeit schillern sehen. Das wallende, goldverzierte Gewand und der prachtvolle Umhang, der um ihre Schultern hing, ließ sie wie eine Königin aussehen. Bewundernd betrachtete er diese liebreizende Erscheinung, die in dieser fauligen Gruft eingekerkert war. Jetzt, als die Sonne einen erneuten Angriff auf das Innere des Gemäuers unternahm, konnte er ihr zierliches Gesicht erkennen, umspielt von Wolken aus Licht und Staub. Sie mochte um die zwanzig Jahre alt sein und war von schlanker Statur. Ihre langen, lockigen Haare schmiegten sich sanft um ihren Hals und ruhten in Wellen auf ihren schmalen Schultern.
Sie sah Pierre direkt in die Augen; mit einem Blick der Verführung, den er noch bei keiner anderen Statue – in einer Kirche– erlebt hatte. Und in seinem Priesterleben hatte er wahrlich schon eine ganze Menge zu Gesicht bekommen. Ihre dunklen, braunen Augen, ja ihr ganzes feines Gesicht war frei von jeder religiösen Verklärung. Ihr Antlitz war nicht von Gram und Schmerz gezeichnet – so wie es üblich war –, und ihre Hände waren nicht gefaltet. Das steinerne Gesicht lebte. Die Augenbrauen waren zu feinen Linien gezupft und ihre vollen, roten Lippen ... sie waren die Krönung ihrer herrlichen Erscheinung.
Langsam ließ er sich in die erste Bankreihe sinken, die unmittelbar hinter ihm stand, ohne den Blick von ihr zu lassen. Er vergaß alles um sich herum. Den Teufel an der Tür, die in den Mauern aufgestaute Flut von Gebeinen und den fauligen Geruch. Alles trat hinter der Frage zurück: Was wollte der alte Abbé vor ihm und der ganzen Welt hier in diesen Mauern verstecken? Hatte dieser Olivier nicht gesagt, daß der alte Abbé die Figuren alle selbst entworfen hatte und sie von weit herangeschafft werden mußten? Und wenn sie bei der Anlieferung nicht seinen Vorstellungen entsprochen hatten, wurden sie auf einem Pferdefuhrwerk mühsam wieder weggeschafft. Besonders wahnsinnig soll er sich doch bei den Statuen von Maria und Josef gebärdet haben.
Ja, jetzt erinnerte er sich. Eilig erhob er sich von der staubigen, knarrenden Holzbank und trat näher an den Altar heran. Die Kirche verdunkelte sich plötzlich, so als sträubten sich diese Mauern dagegen, dem Licht Zugang zu gewähren. War es nur eine kleine Wolke vor der Sonne, oder hatte dieses unheimliche Gemäuer gerade seine Fensterspalten zusammengezogen – so wie ein atmender Organismus seine Nasenlöcher? Natürlich war es nur eine Wolke draußen am Sommerhimmel!
Dort hinten standen die beiden geheimnisvollen Statuen. Sie schwebten rechts und links hinter dem Altar in luftiger Höhe, beidseits unterhalb dieses kreisrunden Glasfensters, auf kleinen Sockeln in der Wand. Er mußte wegen des staubigen Dämmerlichts noch näher an die Figuren herantreten, um Details erkennen zu können. Das noch vorhin glutrote Glasfenster – mit der Darstellung von Jesus und Maria Magdalena – oberhalb der Figuren hatte sich verdunkelt, so als habe das Untier, in dessen Bauch er sich befand, gerade auch noch sein Auge geschlossen. Pierres Atem stockte. Er räusperte sich und klopfte dann hektischden Staub der Kirchenbank von seinem Ärmel. Die Sonne ist herumgewandert und scheint jetzt auf die andere Außenmauer der Kirche. Ja, so wird es sein, Abbé du Lac!
Das waren also die Figuren, von
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