Seelenbrand (German Edition)
stehen. Und da unten auf der anderen Straßenseite lag Madame Paulines Pension. Jetzt, da hier oben alles erhellt war, und das Vogelgezwitscher hereindrang, war es, wenn er es sich recht überlegte, dort unten in der Kaffeerunde grausiger als hier oben.
Er stellte sein Werkzeug in die Ecke und blickte sich um. Aufder gegenüberliegenden Seite des Dachbodens war ein weiteres Fenster mit verschlossenem Laden. Die Holzkisten lagen kreuz und quer überall herum. Hier eine kleine, mit Holzspänen gefüllte, mit der Anschrift des alten Abbés und auf der Rückseite einige Schriftzeichen, wahrscheinlich der Absender. Er sah genau hin. Kairo? Noch während er darüber rätselte, wer seinem Vorgänger etwas aus Ägypten geschickt haben konnte, brauchte das Öffnen des zweiten Fensterladens seine ungeteilte Aufmerksamkeit, da dieser noch stärker festgerostet war als der erste. Ein gezielter Tritt ... und er gab seinen Widerstand auf, riß dabei allerdings aus seiner Verankerung in der Außenwand und stürzte mit lautem Krachen nach unten.
Ach du lieber Himmel! Nicht so laut! Pierre mochte gar nicht nachsehen, ob er dort unten aus Versehen jemanden getroffen hatte. Er spürte eine frische Brise und die Sommersonne schwappte ungehindert herein.
Puh! Vorsichtig lugte er aus dem Fenster nach unten. Gott sei Dank! Keine Toten! Innerlich mußte er jedoch schmunzeln. Ein schöner Skandal, wenn ihn jemand aus dem Drachenkomitee gesehen hätte – diese alten Hexen hatten ihre Augen ja überall, mit Vorliebe in den Privatangelegenheiten anderer Leute. Polternd war das Holz auf dem Dach seines Pfarrhauses aufgeschlagen. Er reckte seinen Kopf hinaus. Ah, Marie war auch nirgendwo zu sehen. Wenn sie ihn fragen würde, warum der Fensterladen da oben an der Villa fehlte, würde er einfach den Holzwürmern die Schuld geben.
Das wären eben gefährliche Biester!
Der Blick von hier war phantastisch. Unter ihm das Pfarrhaus mit dem kleinen Platz und dem riesigen Steinkreuz. Dort der Garten mit den weißgekiesten Wegen und dem Pavillon und noch weiter an der Seite – unübersehbar – der Turm, der die Bibliothek und das geheimnisvolle Verlies mit den Gemälden des Abendmahls enthielt. Schräg gegenüber die alte Kirche mit ihrem Glockenturm und dem dahinter liegenden Friedhof, in dessen wurmstichigem Untergrund sie diese Halle mit dem Pentagramm gefunden hatten. Mit einem hatte der Bischof allerdings recht. Diese Villa hier war tatsächlich höher als der gegenüberliegende Kirchturm. Nicht viel, aber gerade so viel, daß sich der Bischof darüber ärgern konnte. Provokateur und Teufel im Priestergewand! Wie auf einem Brettspiel lag alles vor ihm. Aber was mochte auf dem Areal dort unten von solch großer Bedeutung sein, daß sich sogar der Vatikan, auf die Seite des Abbé gestellt hatte, als der Bischof ihn seines Amtes entheben wollte? Warum hatte er in Rom mehr Einfluß als sein eigener Bischof? Er selbst war in seinem Leben schon häufiger Zeuge gewesen, wie sonst mit renitenten Pfarrern verfahren wurde. Sie wurden einfach an der Wand zerquetscht, ohne daß sich deshalb jemand im Vatikan auch nur eine schlaflose Nacht gemacht hätte. Und was mochte der Alte nur verbrochen haben, daß man ihm sogar die Letzte Ölung verwehrt hatte?
Ratlos ließ er seinen Blick über diesen seltsamen Ort schweifen. Der Kirchturm gegenüber war gedrungen und massig und wirkte eher wie ein Wehrbau. Bislang war er ihm wegen der hektischen Ereignisse da unten noch gar nicht aufgefallen.
Hm! Von dort oben könnte man alles überblicken. Besonders – er reckte sich so weit aus dem Fenster wie es ging – den Friedhof dahinter. Von hier sah man zwar die paar Gruben an der äußersten Umgrenzungsmauer, nicht aber das Grab in dem er festgesessen, und in dem sie zufällig den Luftschacht entdeckt hatten. Diese unbekannte Person – er nannte sie lieber» Das Phantom!«, das hörte sich doch viel unheimlicher an – war vor seiner Nase irgendwo in den Gräbern verschwunden. Da unten mußte also ein geheimer Gang sein. Es gab keine andere Erklärung.
Pierre drehte seinen Kopf in die andere Richtung und dort lag der Turm mit der Bibliothek und den Gemälden. Dessen Eingangstür stand – so wie die der Kirche – immer noch sperrangelweit offen, aber dieser ekelige Gestank zog einfach nicht ab.
Hm? Er sah zurück zur Kirche und dann wieder zum Turm hinüber. Wieso quillt denn dieser unerträgliche Geruch eigentlich nur an diesen zwei Stellen nach außen? Und
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