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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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von zarten Wolkenschleiern umschlungen, reckte sich ein elfenbeinfarbenes Bauwerk der Oberstadt entgegen und erreichte mit seiner langen Spitze einen der goldenen Netzstränge. Es erhob sich auf einer Plattform, die auf vier Türmen ruhte, und ragte in geschwungenen Terrassen, die eine Seite kantig und die andere rund, drei- oder vierhundert Meter weit empor, hier und dort durchsetzt von ovalen kristallenen Flächen, die wie blinzelnde Augen wirkten, wenn sie das Licht der Sonne reflektierten. Direkt daneben trug ein fünfter Turm eine amethystviolette Spirale, die zarter und fragiler wirkte als das Bauwerk auf der Plattform, aber ebenfalls bis zu den goldenen Strängen der Oberstadt reichte, allerdings ohne sie zu berühren.
    »Das Symposium«, sagte Benedict stolz und deutete auf das Gebäude mit den breiten Terrassen. »Und sein Wahrheitszentrum, in dem ich einmal mehrere Wochen verbracht habe, in der Hoffnung, einen Visionär zu sehen.«
    Hinter ihnen erklang ein Tuten, so laut, dass Florence befürchtete, es könnte ihr die Trommelfelle zerreißen. Benedict fluchte und drückte den Sattelknauf zur Seite, was den Fugel veranlasste, den linken Flügel halb zu falten. Sie kippten so abrupt zur Seite, dass die vergessene Panik zurückkehrte und Florence für einige Sekunden keinen klaren Gedanken fassen konnte. Etwas hielt sie fest, Riemen, die aus dem Sattel gekommen waren und sich ihr um die Beine geschlungen hatten, wie eine Art automatischer Sicherheitsgurt. Propeller drehten sich mit lautem Brummen nur wenige Meter entfernt, und Florence spürte die von ihnen verdrängte Luft als starken Wind, der an ihr zerrte, bis der Fugel erneut den Kurs änderte: Er legte beide Flügel an und breitete sie wieder aus, nachdem sie zwanzig oder mehr Meter gefallen waren.
    Florence würgte, schluckte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, während über ihnen ein mindestens hundertfünfzig Meter langes Luftschiff dahinglitt; zahlreiche Gesichter waren hinter den Fenstern der Gondeln erkennbar.
    Benedict lachte und drückte den Steuerknüppel des Sattelknaufs nach vorn. Der Fugel schlug mit seinen großen Flügeln und wurde schneller, sogar schneller als der Zeppelin, der sie eben fast gerammt hätte. Florence rang mit Übelkeit, schloss die Augen und schaffte es, die nächsten Minuten zu überstehen, ohne sich zu übergeben. Sie hob die Lider erst wieder, als sie eine der Anlegestellen des Symposiums erreichten. Benedict half ihr vom Sattel und rief voller Überschwang: »Kommen Sie, kommen Sie, der Moment des Triumphes rückt näher!«
    Florence folgte dem kleinen Mann – ihr blieb auch gar nichts anderes übrig, denn er hatte erneut ihre Hand ergriffen und zog sie mit sich – über die unterste Terrasse und dann durch ein großes Tor, zusammen mit zahlreichen anderen Besuchern. Das Gedränge war fast so groß wie beim Portal des Übergangs, doch wie unter jener Kuppel schien die Luft an diesem Ort sauberer zu sein. Es stank nicht so stark wie draußen, und es fehlte auch das beißende Etwas, das bei jedem Atemzug in Florences Hals brannte.
    Im Innern des großen Gebäudes erwartete sie ein Rauschen wie von einem Wind, der durch die Baumwipfel eines endlosen Waldes strich, oder wie von einem Meer, dessen Wellen endlos an einen endlosen Strand rollten. Tau sende von Stimmen erklangen gleichzeitig, aber zu einem Flüstern gedämpft, das von den zahllosen Logen und Balkonen kam, die Ausbuchtungen an den obsidianschwarzen Wänden bildeten und bis ganz nach oben reichten, zur gewölbten, transparenten Decke, durch die man die lange, bis nach Oberstadt reichende Spitze sehen konnte. Licht fiel auch durch die kristallenen Ovale, die Florence bereits aus der Ferne gesehen hatte, und hinzu kamen Scheinwerfer, deren Lichtfinger wie wahllos durch die kolossale Halle tasteten und gelegentlich bei Sprechern verharrten, die auf kleinen Plattformen standen und sich an die »beschlussfassende Versammlung« wandten, wie Benedict sie genannt hatte. Ihre Stimmen waren nicht lauter als die der vielen anderen, und Florence fragte sich, wie die Versammelten den Reden und Vorträgen folgen konnten. Vielleicht mithilfe der Anzeigeflächen, die langsam durch den Saal schwebten, aufstiegen und dann wieder sanken, sich drehten und vor manchen Logen verharrten, bevor sie ihre Reise fortsetzten. Sie zeigten Sprecher und Zuhörer, in einem Rhythmus, der für Florence ohne Bedeutung blieb, aber vermutlich den Regeln einer bestimmten Choreographie

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