Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
Unterstadt emporstiegen, und nur gelegentlich mit den Flügeln schlug, um den Kurs zu korrigieren. Während sie sich so krampfhaft an Benedict festhielt, dass dieser ihr manchmal auf die zupackenden Hände klopfte, umschwirrten sie die Worte des kleinen Mannes, zuerst Töne ohne Sinn, bedeutungslose Teile der allgemeinen Geräuschkulisse. Doch nach und nach drang etwas von ihnen durch das lähmende Entsetzen, erreichte ihre Gedanken und begann, einen gewissen Sinn zu ergeben.
    Sie erfuhr, dass die Menschen von Lassonde eine polymorphe Spezies waren, offenbar das Ergebnis einer über Jahrhunderte hinweg gesteuerten Evolution, überwacht von den genetischen Spezialisten des Symposiums und Mittelstadts Gestaltarchitekten. Verschiedene Bevölkerungsteile waren für ihre Aufgaben optimiert und dominierten in ihren jeweiligen Lebensbereichen. Die Arbeiter in Unterstadt zum Beispiel waren zur Hälfte Mensch und zur Hälfte Maschine; Benedict nannte sie mehrmals »Maschinenflüsterer«, weil sie auch mit den Dingen sprechen konnten, die keine Seele hatten, wie er es nannte. Die Synthese mit Maschinellem schien weit verbreitet zu sein, wie das mit Benedicts Handgelenk verwachsene Gerät und die Apparate bewiesen, die Florence an Armen, Hälsen und Gesichtern anderer Lassonder gesehen hatte. Der Fugel, der sie beide durch den Turmwald von Mittelstadt trug, machte da keine Ausnahme. Eine kleine Antenne ragte aus seinem Kopf und verband ihn, wie Benedict erklärte, mit den Wahrheitszentren von Lassonde, was ihn in die Lage versetzte, in dem Chaos aus Türmen, Luftschiffen, Gondeln, ganzen Schwärmen individueller Propellerflieger und den keilförmigen Transportern, die auf dem Feuer von Treibsätzen reitend von Unterstadt aufstiegen und Ziele in Mittel- und Oberstadt ansteuerten, sicher zu navigieren und immer den besten Kurs zu wählen. Außerdem, rief Benedict in den Wind, als sie nahe an einer Gondel-Kette vorbeiglitten und nur knapp dem Flügelschlag eines Archäopteryx entgingen, vermittelte ihm die Antenne gute Gedanken und angenehme Gefühle. Florence vermutete ein funkgesteuertes Navi gationssystem und fragte sich einmal mehr, was es mit diesen Wahrheitszentren auf sich hatte. Sie erinnerte sich daran, dass Benedict in einem solchen Zentrum wochenlang auf einen von ihnen gewartet hatte, einen sogenannten Visionär. Allein das genügte, um den Wunsch in ihr zu wecken, ein solches Zentrum zu besuchen – vielleicht konnte sie dort mehr herausfinden über Lassonde, die »einzige wahre Welt«, und über das Buch in der Festung, über den Avatar, der zu ihr gesprochen und Programme erwähnt hatte. Plötzlich fiel ihr etwas anderes ein.
    Florence beugte sich vor und unterbrach den Redefluss des kleinen Mannes. »Sie haben gesagt, dass Ihre Mission ein voller Erfolg war, sogar noch erfolgreicher, als Sie dachten. Wie meinen Sie das?«
    »Prisma!«, erwiderte er. »Wir können Prisma finden, den Schlupfwinkel des Seelenfängers, mit Ihrer Hilfe!«
    »Mit meiner Hilfe?«, erwiderte Florence.
    »Erasmus wird es Ihnen erklären.« Und dann erzählte er vom Symposium, in dem alle drei Teile der immensen Stadt vertreten waren, von einer Institution, die so etwas wie eine Regierung war, oder eine Art ständige beschlussfassende Versammlung, in der die Denker aus der filigranen Oberstadt dominierten, »weil sie die besten Gedanken denken«, wie Benedict sagte. Das klang nicht unbedingt nach Demokratie, fand Florence, und auch die Arbeitsteilung in der Gesellschaft von Lassonde – die sogar physischen und physiologischen Ausdruck fand, in Form von körperlichen Anpassungen an die jeweiligen Tätigkeiten – erschien ihr nicht unbedingt als stolze Errungenschaft einer hochentwickelten Gesellschaft. Sie gewann vielmehr den Eindruck, dass Mittel- und Oberstadt Parasiten der tief unten in Abgasen und Smog halb verborgenen Unterstadt und ihrer Maschinen waren, die alles Notwendige produzierten, dass sie die Arbeit der Geschöpfe ausbeuteten, die sich die Denker in Oberstadt ausgedacht hatten, von Mittelstadts Gestaltarchitekten entworfen worden waren und tief unten in Brutbottichen heranwuchsen. Die Antenne im Kopf des Fugels der sie durch Mittelstadt trug, erschien ihr plötzlich symptomatisch. Vielleicht, dachte sie, empfing der geduldig fliegende Fugel nicht nur Navigationsdaten, die ihm die Orientierung erleichterten, sondern auch fremde Gedanken, die sein Gehirn für eigene hielt.
    Bei dieser Vorstellung erschrak Florence. Benedicts

Weitere Kostenlose Bücher