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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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graue Dampf, der dann und wann aus hohen Ventilschloten zischte, war sein Atem.
    »Das ist Unterstadt«, sagte Benedict. »Von dort kommen die Emporkömmlinge, die Sie eben gesehen haben. Dort gibt es all die Biofabriken, die die Entwürfe der Gestaltarchitekten in lebendes Fleisch verwandeln. Wir sind hier in Mittelstadt, und das dort ist Oberstadt.«
    Florence sah nach oben und blinzelte im Sonnenschein, der durch ein filigranes goldenes Gespinst filterte. Ein Netz hing über der Stadt, von den Turmspitzen berührt und vielleicht von ihnen gestützt, das aus dieser Entfernung gesehen aus dünnen Fäden zu bestehen schien, wie von einer goldenen Spinne gesponnen. Aber mit den Türmen als Indikator für die Größenverhältnisse gelangte Florence zu dem Schluss, dass es Taue waren, an manchen Stellen auch schmale Brücken und Stege, die zu Ansammlungen von traubenartigen Gebilden führten. Die meisten dieser Gebilde befanden sich in der Nähe von langen und breiten Paneelen, dünn wie die Flügel von Schmetterlingen, große Sonnensegel, die das Licht einfingen und es in Elektrizität verwandelten. Die halbtransparenten »Beeren« dieser Trauben waren so groß wie Häuser, und in ihnen zeigten sich Bewegungen.
    »Dort oben, im hellen Schein der Sonne, wird gedacht und geplant«, sagte Benedict mit unüberhörbarem Stolz. »Hier in Mittelstadt werden aus den Gedanken konkrete Konzepte und aus den Plänen Entwürfe.« Er deutete in die Tiefe. »Und dort, in Unterstadt, geben Arbeiter und Maschinen den Konzepten und Entwürfen Substanz und Gestalt. Alles zusammen …« Er breitete erneut die Arme aus. »… ist Lassonde, die eine wahre Welt. Na, was sagen Sie dazu?«
    Florence sagte nichts. Sprachlos beobachtete sie, wie einer der großen Zeppeline mit brummenden Propellern neben dem Turm verharrte, auf dem sie standen. Mehrere Rampen klappten aus dem Rumpf des Luftschiffes, und Passagiere stiegen aus, die meisten groß und in bunte Gewänder gehüllt, einige klein und in blau schimmernde Hemdhosen gekleidet.
    »Kommen Sie, kommen Sie.« Benedict löste eine von Florences Händen von der Brüstung und zog sie erneut mit sich. »Verlieren wir keine Zeit. Wir müssen zu Erasmus.«
    Er lief los, entgegen dem Strom der Passagiere und Reisenden, hob etwas, das er einer seiner Taschen entnommen hatte – eine Art Abzeichen oder Dienstmarke –, und rief Worte, die Florence nicht verstand. Aber die Leute machten ihm Platz, und nach kurzer Zeit erreichten sie die andere Seite des Turms, wo das Gedränge nicht ganz so dicht war. Mehrere weiße Ballon-Gondeln schaukelten dort in einer sanften Brise, und ihre Piloten – sehr hagere und leichte Männer in schwarzem Leder, mit kleinen Geräten oder Instrumenten in Hals und Wangen – warteten auf Fahrgäste. Einer von ihnen trat Benedict entgegen, aber der winkte ab und hielt stattdessen auf einen weißen Steg zu, der wie eine Nadel vom Turm ausging und mitten ins Nichts über der Unterstadt führte. Eine kleine verhutzelte Gestalt kauerte dort auf einem Stuhl, der Teil des Stegs zu sein schien, und bewachte drei große Vogelwesen, die den gefiederten Ammen beim Portal ähnelten. Jedes von ihnen trug auf seinem Rücken etwas, das nach einem großen, in mehrere Segmente unterteilten Sattel aussah.
    »Nein«, sagte Florence, blieb stehen und versuchte, nicht in die Tiefe zu sehen, die rechts und links an ihr zu saugen schien.
    »Was ist?«, fragte Benedict erstaunt. »Diese Fugel sind das schnellste Transportmittel weit und breit. Kommen Sie, kommen Sie!«
    Florence schüttelte den Kopf, aber Benedict zog, und der verhutzelte kleine Mann – der Fugel-Hirte – schob, nachdem er einen Blick auf Benedicts Abzeichen geworfen hatte, und so fand sie sich schließlich auf dem Sattel wieder, der sich ihrem Gesäß und den Beinen anpasste wie eine Hand, die sie festhalten wollte. Benedict schwang sich vor ihr auf den Rücken des Fugels, umfasste den Sattelknauf wie einen Steuerknüppel und sagte: »Los geht’s.«
    Das große Vogelwesen gurrte wie eine Taube, breitete die Flügel aus und sprang in die Leere.

24
    V ielleicht lages an der Einsamkeit, die Benedict fast ein Jahr in der sturmumtosten Festung ertragen hatte und ihn jetzt besonders gesprächig machte, oder er wollte Florence von ihrer Angst vor der Tiefe ablenken – er redete fast pausenlos. Florence saß starr vor Schreck hinter ihm auf dem Rücken des Fugels, der in den warmen, stinkenden Dunstschwaden segelte, die von

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