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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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gedrungene Mann in der Nische. Sie ging langsamer und beobachtete, was geschah. Die Besucher mussten beide Hände auf eine Platte legen, vielleicht eine Art Scanner, und wenige Sekunden später konnten sie entweder passieren oder mussten um kehren.
    Unbehagen erfasste Florence, und sie fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, ganz allein hierherzukommen, ohne zu wissen, was sie erwartete.
    Sie brauchte nicht lange zu warten, denn die Überprüfung – woraus auch immer sie bestand –, dauerte nur wenige Sekunden. Von den sieben oder acht Lassondern, die vor ihr warteten, erhielten nur zwei die Erlaubnis, das Wahrheitszentrum zu betreten. Die anderen wurden abgewiesen. Einer von ihnen – ein dicklicher, schwitzender Mann mit Haaren wie Borsten – protestierte mit dem Hinweis, dass er zum vierten Mal in diesem Sechstag um eine Audienz ersuchte, aber die Wächter schüttelten ihre knochigen Köpfe und kannten kein Erbarmen.
    »Ich werde offiziell Beschwerde beim Symposium einreichen!«, protestierte der Mann, der ein besonders farben prächtiges Gewand trug. Zwei wie Chrom glänzende Linsen ersetzten die Augen, und Florence hörte das leise Summen von Elektromotoren, wenn kleine Objektive ein oder zwei Zentimeter weit ausfuhren und dann in ihre Ausgangsposition zurückkehrten. »Woher nehmen Sie das Recht, meine kostbare Zeit zu vergeuden?«
    Die Wächter blieben unbeeindruckt. Einer versperrte ihm den Weg zum Eingang, und der andere schnarrte: »Der Nächste, bitte.«
    Florence trat vor und legte die Hände auf die aus der Wand ragende Metallplatte. Sie hatte Kälte erwartet, aber stattdessen fühlte sie Wärme. Lichter tanzten über ihre Hände, begleitet von einem vagen Prickeln und einem plötzlichen Jucken hinter dem linken Auge, das Florence veranlasste, instinktiv die Hand zu heben.
    Ein Signal ertönte, ein leises, klirrendes Läuten, und aus dem Lautsprecher über der Metallplatte drang eine Stimme. »Prioritätszugang für die getestete Person.« Und etwas sanfter: »Bringt sie direkt zu mir.«
    Einer der Wächter öffnete den Eingang für Florence.
    »Was?«, ereiferte sich der Mann mit den Augenlinsen. Schweiß perlte auf seiner Stirn; ganz deutlich sah Florence, wie ein Tropfen über seine Schläfe rann und eine feuchte Spur schuf, einen dünnen silbernen Faden, der am Ohrläppchen vorbeiführte. Wie der Faden eines Netzes, dachte sie und fühlte plötzlich eine seltsame Benommenheit. »Ihr weist mich ab und lasst diese Frau passieren? Seht sie euch nur an! So schmutzig wie sie ist … Sie scheint direkt aus Unterstadt zu kommen.«
    Florence sah an sich herab. Sie trug noch immer die Kleidung, die sie in einem Schrank in der Festung gefunden hatte: eine dicke Flanellhose, etwas zu groß für sie, einen kratzigen Wollpullover und darüber eine halblange gefütterte Jacke. Die Hose war fleckig, die Jacke voller Staub – Schmutz, der aus der Festung stammte und nicht imstande sein sollte, an diesem Ort zu existieren. Eigentlich hätte sie noch mehr schwitzen müssen als der dicke Mann in seinem dünnen Gewand, aber stattdessen fröstelte sie plötzlich.
    Der eine Wächter versperrte dem zornigen Lassonder noch immer den Weg. »Prioritätszugang«, brummte der andere, öffnete die Tür und führte Florence ins Innere des Wahrheitszentrums.
    Stille erwartete Florence, eine Stille, die mehr war als nur die Abwesenheit störender Geräusche, die Ruhe und Frieden vermittelte, die Wogen ihrer Gedanken glättete. Die scharfen Gerüche blieben zusammen mit dem Lärm draußen zurück, als der Wächter sie über Treppen und Rampen nach oben führte, vorbei an Wänden aus violettem Kristall und Säulen aus bleigrauem Metall, die sich zusammen mit der Spirale nach oben schraubten, Oberstadt entgegen, deren goldener Glanz mit den amethystfarbenen Tönen des Wahrheitszentrums verschmolz. Überall gab es Nischen und Alkoven: kleine offene Zimmer, in denen Lassonder auf Stühlen saßen und Stimmen lauschten, die aus den Wänden vor ihnen kamen und so leise waren, dass Flo rence kein Wort verstand.
    Schließlich erreichten sie einen Raum, der in dieser Größe in der Spirale eigentlich gar nicht hätte existieren dürfen, denn er schien fast ebenso groß zu sein wie der Saal des Symposiums mit all seinen Logen und Balkonen.
    »Prioritätszugang«, sagte der Wächter und verbeugte sich, aber nicht vor Florence, sondern vor dem Podium in der Mitte des Raums, wo eine Gestalt auf etwas ruhte, das nach einem üppig

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