Seelenfänger
Fragen, weil du ein Teil von mir bist.«
Erleichterung durchströmte Florence, denn das war nur die halbe Wahrheit. Diese Antwort bewies, dass sie zu viel befürchtet hatte.
»Und jetzt bist du erleichtert, weil du glaubst, dass ich doch nicht über alles Bescheid weiß.«
Florence sah sich um. In ihrer Nähe deutete nichts auf die Präsenz von Sensoren hin, aber das bedeutete nicht viel. Ihr Blick kehrte zu der Frau zurück, zu dem Orakel mit den geschlossenen Augen und den Lippen, die sich bewegten, während eine Stimme aus dem Nichts unter der hohen Decke kam. Neue Unruhe breitete sich in ihr aus.
»Es ist nicht schwer zu erraten, was dir durch den Kopf geht«, sagte die Stimme. »Ich habe mit zig Tausenden Lassondern gesprochen und dabei gelernt, ihre Körpersprache zu deuten. Ich verstehe auch das, was nicht gesagt wird. Nun, die Frage, die dich zu mir bringt, lautet: Wer bist du?«
»Es ist eine der Fragen, und vielleicht nicht die wichtigste«, sagte Florence und dachte an Zach.
»Du fragst dich, ob du nur eine Fiktion bist oder ob du tatsächlich existierst.«
Etwas in Florence begann zu zittern. Matthias, der Matthias der anderen Foundation, hatte geglaubt, tatsächlich zu existieren. Er hatte sich für eine real existierende Person gehalten und war offenbar nicht imstande gewesen, den Unterschied zu erkennen.
»Die Frage ist, ob man den Unterschied erkennen kann«, fuhr die Stimme fort, und Florence gewann immer mehr den Eindruck, dass sie nicht mit dem Orakel sprach, sondern direkt mit der »Denkmaschine«. »Ist ein Spiegelbild imstande, sich selbst als Spiegelbild zu begreifen, als Abbild von etwas, das mehr Realität hat? Und dieses Mehr an Realität? Woraus besteht es? Ist das Spiegelbild nicht ebenfalls ›da‹? Es hat nur keine messbare, greifbare Substanz. Ihm fehlt eine von drei Dimensionen. Es existiert nicht selbst, bildet nur ab. Aber wenn wir das Original entfernen und das Spiegelbild bewahren, wenn wir dem Abbild Unabhängigkeit geben … Wird es dann nicht zu einem eigenständigen Original? Bekommt es dadurch nicht ›Realität‹, auch ohne die Substanz der dritten Dimension?«
Die Worte rauschten in Florences Ohren, und Schwindel erfasste sie, wie in der Nische des Symposiums. Sie merkte, dass sich ihre Hände rechts und links fest um die Stuhlkanten geschlossen hatten.
Wieder bewegten sich die Lippen der ansonsten völlig reglosen Frau. »Kannst du die Vorstellung nicht ertragen, ein Abbild zu sein, Florence? Wünschst du dir … Originalität?«
»Die Menschen dieser Welt …«, sagte sie und unterbrach sich kurz. Ihre Stimme klang rau, wie die einer anderen Person. »Die Lassonder … Sie glauben, in der einzigen wahren Realität zu leben. Stimmt das?«
»Was könntest du mit meiner Antwort anfangen, wenn sie ›Ja‹ lautete und du dann später feststellen würdest, dass diese Welt – und ich mit ihr – virtueller Natur wäre?«
Florence versuchte, ihre wirren Gedanken zu ordnen. »Eine deiner Vorlieben scheint darin zu bestehen, Fragen mit Gegenfragen zu beantworten.«
»Es sind die Fragen, die uns zeigen, wohin wir gehen müssen. Sie weisen uns die Richtung. Ja, du hast recht, die Lassonder halten dies – ihre Welt aus Unterstadt, Mittelstadt und Oberstadt – für die einzige existierende Realität. Doch warum einen Unterschied machen? Du kennst die Bedeutung der Relativität, Florence. Warum nach Absolutem suchen, wenn alles relativ ist? Wir denken, also sind wir, wo und wie auch immer.«
Florence wartete darauf, dass die Stimme etwas hinzufügte, aber es blieb still.
»Machst du es dir da nicht ein bisschen zu einfach?«, fragte sie schließlich.
»Es muss nicht alles schwer und kompliziert sein, Florence. Wir erzeugen unsere eigene Realität. Allein der Umstand, dass wir hier sind und miteinander sprechen, beweist unsere Existenz.«
»Das Gespräch könnte eine Fiktion sein, eine Illusion.«
»Mir scheint, du willst Realität als in Bezug auf etwas definieren, Florence. Es ist wie mit dem Spiegel und dem Spiegelbild. Wenn du beides voneinander trennst, gibst du beidem Wirklichkeit, ohne das Spiegelbild selbst zu verändern.«
Florence dachte darüber nach und begann zu ahnen, was die Denkmaschine des Wahrheitszentrums meinte.
»Es sind unsere Überzeugungen, die Realität schaffen«, fuhr die Denkmaschine fort. »Lassonde ist über die Phasenschwellen mit zahlreichen anderen Welten verbunden. Die Lassonder besuchen sie und leben in vielen. Warum sollte man
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