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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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sich die Frage stellen, welche dieser Welten realer sind als andere? Sie alle existieren, solange man an sie glaubt.«
    Der Glaube macht den Unterschied, dachte Florence. Könnte ich aufhören zu existieren, wenn ich nicht mehr an mich glaube? Würde ich dann einfach verschwinden?
    Und dann dachte sie: Menschenskind, Flo, reiß dich zusammen. Du bist auf dem besten Weg, vollkommen auszurasten.
    Ihre Gedanken kehrten zur Erde zurück. Zu Sea City, der Foundation, Jonas und den anderen, Zach … Und zu dem Leben, das sie vorher geführt hatte: die Internate in Zürich, Madrid, Rom und London, ihre Eltern, Ferdinand Legrande und Elvira Alessandra da Silva … Sie erschienen ihr wie Fremde, wie Namen ohne Herz und Seele. Manuel fiel ihr ein, jene Nacht mit ihm. Durch ihn war es zu ihrem ersten Kontakt mit Tetranol gekommen. Und wenn sie es sich recht überlegte … Irgendwie hatte er den Ausschlag dafür gegeben, dass sie zum Philanthropischen Institut und zur Foundation gekommen war. Das alles existierte in ihr, als ein gelebtes Leben. Die Bilder waren da, verbunden mit Gedanken und Gefühlen. Sie konnten nicht nur Illusion sein, oder? Dies war ihr Leben, oder?
    Die Lippen der liegenden, mit dem Interface verwachsenen Frau zitterten. »Dies sind verschränkte Wirklichkeiten, miteinander verbunden, ineinander verkeilt, voneinander abhängig. Die Gedanken hinter dem sehenden Auge entscheiden.«
    Florence gab nicht den Versuch auf, alles zu verstehen, verschob ihn nur auf später und zwang ihre Gedanken in eine neue Richtung. »Die Menschen von Lassonde kommen hierher, um die Wahrheit zu hören.«
    »Sie stellen Fragen, und wir antworten nach unserem besten Wissen und Gewissen.«
    »Wir? Wer bist du? Wer seid ihr?«
    »Wer ich bin, möchtest du wissen? Ist das eine der Fragen, die dich beschäftigen?«
    »Du hast behauptet, meine Fragen zu kennen«, sagte Florence.
    »Vielleicht nicht alle«, erwiderte die Stimme, und Florence hörte ein Lächeln, wenn so etwas möglich war. »Dies bin ich.«
    Eine Gestalt stand auf dem Podium, neben der Säule, die die Kabelstränge aus dem Kopf des Orakels empfing, eine geisterhafte Erscheinung, durchsichtig und mit blassen Farben. Einzelheiten waren nur angedeutet: vage Schlieren dort, wo der hohe Kragen des langen Gewandes den Unterkiefer erreichte, die Falten im Gesicht nicht mehr als dünne Linien, das bis auf die schmalen Schultern fallende Haar eine vage graue Wolke. Die Augen waren grün wie Jade, ihr Blick intensiv.
    Ein Hologramm, dachte Florence. »Ist das ein Avatar?« Sie erinnerte sich an etwas. »Benedict, der Legat, der mich hierherbrachte … Er sprach von Visionären.«
    »So nennen uns die Lassonder«, sagte die Gestalt und ging langsam an der liegenden Frau vorbei. »Dies ist Chana, mit deren Lippen ich oft spreche. Sie ist eine ganz besondere Legatin, und ihre Gedanken haben mir viele Türen geöffnet. Wir passen gut zusammen, Chana und ich. Seit mehr als hundert Jahren sind wir ein Paar.« Der Avatar kam näher und blieb nur einen Meter von Florence entfernt stehen. »Du bist keine Legatin, aber ich glaube, du könntest zu einem Orakel werden, wenn du möchtest.«
    »Nein«, sagte Florence ohne nachzudenken. Das Bild der mit dem Interface verwachsenen Frau schreckte sie ab. »Ich nehme an, du bist eine KI, eine Künstliche Intelligenz.«
    »Ich bin Marta«, sagte die Gestalt. »Diesen Namen habe ich mir selbst gegeben, weil er mir gefällt. Ich denke und fühle, ich habe ein Bewusstsein und bin mir meiner Existenz bewusst.«
    »Denkende und fühlende Maschinen«, sagte Florence. »Denkmaschinen.«
    »Das sind Juart und Iker«, sagte Marta und deutete auf zwei weitere Gestalten vor der Treppe zum Podium. »Und dann wären da noch Tanescha, Larue, Jerrold, Geraldine, Borodek, Elsgen, Higgons, Horazio …« Die KI nannte weitere Namen, zwei oder drei Dutzend, so viele, dass Florence sich nicht alle merken konnte. Der große Raum mit den Säulen der Denkmaschine und dem Podium füllte sich immer mehr mit geisterhaften Erscheinungen, unter ihnen auch einige, die nicht wie Menschen aussahen, mehr Ähnlichkeit mit Reptilien und Vögeln hatten. Hier und dort bemerkte Florence Gestalten, die Merkmale verschiedener Spezies in sich vereinten.
    Sie glaubte zu verstehen. »Eine KI für jedes Wahrheitszentrum von Lassonde«, sagte sie langsam. »Und noch mehr, nicht wahr? Hier sind auch die Avatare von … Denkmaschinen anderer Welten.«
    »Nicht alle Welten sind von Menschen

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