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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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gepolsterten Liegesessel aussah.
    »Danke«, erklang eine Stimme. »Du kannst gehen.«
    Der Wächter verneigte sich erneut und stapfte davon.
    Neugierig betrat Florence den großen Raum und näherte sich dem Podium. Die grauen Säulen, die sie auch bei den Rampen und Treppen gesehen hatte, bildeten hier drei Kreise: einen entlang der gewölbten Wände, wie stützende Pfeiler, einen zweiten, der das Podium in großem Abstand umgab, und einen dritten in unmittelbarer Nähe. Florence berührte eine der Säulen und spürte eine leichte Vibration, hörte aber kein Summen, obwohl sie das erwartet hatte – es blieb still.
    Sie trat die Stufen des Podiums hoch und näherte sich der Gestalt. Ein Stuhl stand dort, wie für sie bereitgestellt.
    »Setz dich, Florence«, sagte die Frau, die dort in dem Liegesessel ruhte. Ihre Lippen bewegten sich, doch die Stimme kam von oben, aus der Dunkelheit unter der hohen Decke. Es war eine ruhige, sanfte Stimme, voller Geduld.
    »Du kennst mich?«, erwiderte Florence und sank auf den Stuhl. Was bisher nicht einmal eine Vermutung gewesen war, nur eine vage Ahnung, verdichtete sich zur Gewissheit. Der Liegesessel bestand aus zahlreichen miteinander verbundenen Geräten und bildete ein komplexes Interface-System. Die »Polster« erwiesen sich als Ansammlungen von lebendem Gewebe, vielleicht eine biologische Schnittstelle für die Frau, die damit verwachsen war und deren Körper möglicherweise auch Nährstoffe aus ihnen bezog. Sie lag auf dem Rücken, halb von dem Gewebe umschlungen; der sichtbare Teil ihres Körpers zeigte ein kompliziertes Muster aus Flecken und Linien, die offenbar aus filigranem Metall bestanden. Der obere Teil des Kopfes ging in etwas über, das an die Tentakel eines Zephalopoden erinnerte: Kabelstränge, die den Schädel mit der Säule direkt hinter dem Interface verbanden. Die Augen blieben geschlossen, wie zugeklebt.
    Die Lippen der Frau zitterten. »Ich weiß viel, aber nicht alles.«
    »Ich nehme an, du bist das Orakel«, sagte Florence und vollführte eine Geste, die nicht nur den grauen Säulen galt, sondern dem ganzen Wahrheitszentrum. »Verbunden mit einem riesigen Computer.«
    »Die Menschen dieser Welt sprechen von ›Denkmaschinen‹, und vielleicht ist das der passendere Ausdruck.«
    »Warum hast du mich hierhergeholt?«
    »Warum bist du hierhergekommen?«
    Florence lächelte unwillkürlich und erinnerte sich an die Gespräche mit Lily, die sie zusammen mit Matthias geführt hatte. »Dies ist ein Wahrheitszentrum. Ich bin hier, um die Wahrheit zu hören.«
    Die Lippen der Frau bewegten sich, und die Stimme aus dem Dunkeln fragte: »Was unterscheidet Wahrheit von Lüge?«
    »Beweisbarkeit?«, erwiderte Florence. »Reale Existenz?«
    »Wir beide existieren«, sagte das Orakel, beziehungsweise die Denkmaschine. »Wer von uns ist realer? Wer von uns besitzt mehr Wahrheit?«
    Florence seufzte leise. »Ich fürchte, wir verlieren uns hier in Semantik.«
    »Semantik ist die Lehre von Worten, und Worte sind unser Werkzeug, um Bedeutung zu vermitteln. Worte ermöglichen es uns, die Welt zu beschreiben, und sie sind auch das Vehikel von Wahrheit und Lüge. Worte können ein Spiegel sein, und sag mir, Florence: Wenn du zwischen zwei Spiegeln stündest, welcher würde dir das richtige Spiegelbild zeigen? Welches wäre Wahrheit und welches Lüge?«
    Florence spürte, wie die Gelassenheit aus ihr wich, die sie beim Betreten des Wahrheitszentrums erfasst hatte. Sie versuchte, den inneren Frieden festzuhalten, aber er zerrann ihr wie Sand zwischen den Fingern. Die bohrenden Fragen kehrten zurück, aber vielleicht befand sie sich hier am richtigen Ort, um Antworten zu bekommen.
    »Ich nehme an, deine Worte beziehen sich auf das, was man hier ›Pluralität‹ nennt, auf die Vielzahl der Welten und ihre Realität.«
    »Ich kenne deine Fragen, Florence. Sie beziehen sich darauf.«
    War das ein weiterer Hinweis? Sie versuchte, klar zu denken und die tiefere Bedeutung hinter den Worten zu erkennen, sie miteinander zu verbinden, um zu ihrem wahren Sinn vorzustoßen. Gleichzeitig befürchtete sie, dass sich vor ihr, direkt vor ihren Füßen, ein tiefer Abgrund öffnete. Ein falscher Schritt genügte, um hinabzustürzen. Und vielleicht war es das, was ihr selbst an diesem ruhigen Ort neue Unruhe bescherte: die Angst davor, den Verstand zu verlieren und dem Wahnsinn anheimzufallen.
    »Woher kennst du meine Fragen?«
    »Du befürchtest, dass meine Antwort lautet: Ich kenne deine

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