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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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einer halb geöffneten Luke endete. Ohne das »göttliche« Outfit hätte man ihn vielleicht für einen Wartungstechniker halten können, damit beauftragt, die Innenwände des Schlotes zu kontrollieren.
    »Der vergessliche Gott«, ächzte Zacharias und sah nach unten. Er hatte das Gefühl, festen Boden unter den Füßen zu haben, aber seine Augen behaupteten etwas anderes: Die dunkle Tiefe im Innern des Schlotes setzte sich unter seinen Füßen fort; nichts gab ihnen Halt.
    »Inzwischen nicht mehr, mein Junge«, sagte der Alte ernst. »Ich erinnere mich wieder, wenn auch nicht an alles. Einige meiner Speicherbänke sind beschädigt worden, vielleicht mit Absicht, vielleicht auch nicht. Es ist schwer zu sagen, und eigentlich spielt es auch keine Rolle, denn das dafür verantwortliche Individuum existiert nicht mehr. Eine gedachte Kugel hat ihn umgebracht, und in gewisser Weise ist er gestorben, weil er glaubte, sterben zu müssen.« Der alte Mann lachte leise, wie über einen besonders tiefgründigen Witz.
    »Bist du ein Avatar, oder …?«, begann Florence, nachdem sie ebenfalls einen Blick in die Tiefe geworfen hatte.
    »Oh, ich verstehe, du beziehst dich auf die Falle und das Buch.« Der Alte schüttelte den Kopf, wodurch sein Haar in Bewegung geriet. Es wallte und wogte, breitete sich wie in Wasser aus, und für einige wenige Sekunden bildete es fast so etwas wie einen Heiligenschein. »Nein, ich bin kein Avatar, Florence. Ich bin echt.« Ein wenig verschmitzt fügte er hinzu: »Vielleicht sogar echter als die Welt, in der ihr euch befindet.«
    »Du bist Lily, nicht wahr?«, fragte Florence.
    »Das hast du gut erkannt, junge Dame.« Der Alte deutete eine Verbeugung an. »Kompliment. Unser Freund hier scheint etwas schwerer von Begriff zu sein.«
    »Was?«, brachte Zacharias hervor.
    »Quod erat demonstrandum«, kommentierte der Alte und lachte erneut.
    »Kannst du uns zurückbringen, Lily?«, fragte Florence schnell. »Zurück zur Foundation?«
    »Warum wollt ihr zurück?«
    Zacharias hatte das Gefühl, abseits zu stehen, durch eine Wand der Verwirrung von den Ereignissen getrennt zu sein. Er stand im Nichts, mitten in einem Schacht, der oben einen münzgroßen Himmelsausschnitt zeigte und unten nichts als Dunkelheit, von der Willenskraft eines alten Mannes, der sich ihm einmal als Gott vorgestellt hatte, vor dem Sturz in die Tiefe bewahrt. Etwas Licht kam durch die halb offene Luke weiter oben, aber es hätte eigentlich nicht ausreichen dürfen, dass er die Falten im Gesicht des Alten und die Hoffnung in Florences Augen mit solcher Deutlichkeit erkennen konnte. Was hier geschah, entzog sich erneut seiner Kontrolle, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er hatte genug von Situationen, die ihn zum Spielball machten.
    »Ich will endlich wissen, was hier los ist«, sagte er mit fester Stimme. »Ich will verstehen .«
    »Das kann noch etwas warten«, warf Florence ein, als der Alte den Mund öffnete, um zu antworten. »Bring uns zuerst zur Foundation zurück, Lily.«
    Der greise Mann seufzte. »Eigentlich wollte ich euch um etwas bitten. Deshalb habe ich euch hier … aufgefangen, könnte man sagen.«
    »Nur deshalb?«, fragte Florence. »Du willst uns um etwas bitten? Nur darum hältst du uns hier fest? Andernfalls hättest du uns in den Tod stürzen lassen?«
    »Oh, nicht in den Tod. Zacharias hätte sich bestimmt etwas einfallen lassen. Nicht wahr, mein Junge? Im letzten Moment fällt dir immer etwas ein. Weil du ein großes Talent bist. Das größte nach Salomo. Aber du neigst dazu, dir etwas darauf einzubilden, und Hochmut kommt vor dem Fall.« Der Alte sah ihn an und lachte wie über einen köstlichen Witz.
    Es brodelte in Zacharias. Mitten im Nichts trat er zur Seite, bis er neben der Leiter an der Innenwand des Schlotes stand, und hielt sich sicherheitshalber an einer Sprosse fest. »Schluss damit. Ich will endlich wissen, was hier los ist.«
    »Du hast eine ganze Nacht mit Florence verbracht«, sagte der Alte. »In der Hütte im Schnee. Ich nehme an, ihr hattet auch Gelegenheit, miteinander zu reden.«
    »Ich habe ihm das eine oder andere erzählt«, räumte Florence ein.
    Zacharias staunte immer mehr darüber, wie sie so ruhig sein konnte. »Nicht annähernd genug! Bevor du uns um irgendetwas bittest, will ich wissen, was hier gespielt wird!« Er atmete tief durch und fragte: »Bist du wirklich Lily? Die Lily aus der Foundation? Von Matthias erschaffen?«
    »Matthias hat mich nicht erschaffen. Er hat sich

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