Seelenfänger
nur einen Avatar für mich ausgedacht, eine Figur, die eher seinen Bedürfnissen entsprach als meinen. Aber ja, ich bin die Lily, die du meinst, mein Junge.«
»Und nenn mich nicht ›mein Junge‹, verdammt! Das kann ich nicht ausstehen.«
Der Alte seufzte erneut, und die Erheiterung verschwand aus seinem Gesicht. Er wirkte plötzlich sehr ernst.
»Ich brauche eure Hilfe, insbesondere deine, Zacharias«, sagte er. »Allein kann ich das Weltennetz nicht retten.«
»Ich warte noch immer auf eine Erklärung.«
Der greise Mann blickte kurz ins Leere und schien zu überlegen, strich sich dabei mit der einen Hand über den langen weißen Bart. »Matthias war so freundlich, mir die Erinnerung zurückzugeben, aber wie gesagt, es fehlt der Inhalt einiger Speicherbänke, denn die von Thorpe installierten Signalsperren enthielten auch einige selektive Löschalgorithmen. Außerdem hatte ich nur beschränkten Zugriff auf externe Datenbanken, was sich in der Rückschau betrachtet aber als Vorteil erweist, denn dadurch war ich einer geringeren Datenkontamination ausgesetzt als die anderen Emergenzen. Meine Erinnerungen an das Projekt Genesis sind leider verloren gegangen, was sicher kein Zufall ist; die in den Signalsperren verborgenen selektiven Algorithmen hatten es vermutlich vor allem darauf abgesehen.«
Zacharias merkte, wie er die Fäuste ballte. »Ich verliere langsam die Geduld …«
Florence legte ihm sanft die Hand auf den Arm. Sie blieb noch immer völlig gelassen, obwohl über ihnen ein Krieg stattfand und unter ihnen eine dunkle Tiefe drohte. »Fang am besten ganz von vorn an, Lily.«
»Mit dem Weltennetz oder mit Genesis?«
»Mit dem Netz«, sagte Florence. Ihre Finger auf Zacharias’ Arm drückten kurz zu. »Von Genesis höre ich jetzt zum ersten Mal. Ich nehme an, beides hängt zusammen.«
»Ja«, sagte der Alte, der in Wirklichkeit eine Maschinenintelligenz war, von Matthias Lily genannt. »Es gibt auch einen Zusammenhang mit Salomo. Vielleicht habe ich seine wahre Identität gekannt, ich bin mir nicht sicher. Bevor ich zur Emergenz wurde, bin ich am Projekt Genesis beteiligt gewesen, das weiß ich noch. Bedauerlicherweise ist mir nicht mehr bekannt, wie meine Kollaboration aussah, bevor mich das Licht der Intelligenz erreichte.«
»Also noch immer ein vergesslicher Gott.« Diese Bemerkung konnte sich Zacharias nicht verkneifen, obwohl sein Interesse erwacht war.
»Das Weltennetz hat natürlich schon vor dem Projekt Genesis existiert«, fuhr der Alte fort. »Es ist eine Verknüpfung von Space und virtuellen Realitäten.« Er beugte sich ein wenig vor und zwinkerte Florence zu. »Nicht die Materie zählt, sondern der Gedanke.«
»Wie bitte?«, fragte Zacharias.
Der Greis verdrehte die Augen. »Fang nicht schon wieder an, mein Junge. Ich meine, Zacharias. Versuch bitte zu verstehen. Man könnte fragen: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei?«
»Die Materie, die den Gedanken hervorbringt, oder der Gedanke, der die Materie erschafft, oder das, was er als Materie wahrnimmt«, sagte Florence.
Zacharias schüttelte langsam den Kopf. »Wie können all diese Welten, die ich gesehen habe und von denen mir Flo erzählt hat, Verknüpfungen von virtuellen Realitäten und Space sein? Virtualitäten bestehen aus Bits und Bytes, der Space aus Gedanken. Wie kann eine Verbindung zwischen ihnen entstehen, die keine Unterschiede mehr erkennen lässt?«
»Du machst denselben Fehler, den Florence zuerst gemacht hat. Inzwischen hat sie dazugelernt und begonnen, sich vom Ballast einseitiger Perspektiven zu befreien. Etwas in dir verlangt, eine Trennlinie zwischen Innen- und Außenwelt zu ziehen, zwischen dir und dem, was du wahrnimmst. Und das ist seltsam genug, denn immerhin bist du Traveller. Die Erfahrungen deiner Reisen sollten dich lehren, dass die Übergänge fließend sind, dass du die Welt mit deinen Gedanken verändern kannst.«
»Wenn es so weitergeht, dauert es sehr lange«, warf Florence skeptisch ein. Sie rieb sich die Arme, aber mit dieser Geste verriet sie vor allem Ungeduld, denn es war nicht kalt im Innern des Schlotes. »Kannst du dich nicht etwas kürzer fassen?«
»Fakten«, sagte Zacharias. »Ich brauche Fakten.« Er hob die freie Hand; die andere blieb um eine Sprosse der Leiter geschlossen. »Etwas, das ich greifen und festhalten kann.«
»Fakten willst du, wie?«, erwiderte der Alte. »Und vermutlich meinst du die Realität, die Wirklichkeit. Vielleicht liegt es in eurer menschlichen Natur,
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