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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Zeiten.«
    Das beeindruckte Florence überhaupt nicht.
    Der junge Mann streckte die Hand aus. »Ich bin Manuel«, sagte er. »Manuel Delgado Pareja.«
    »Das klingt spanisch«, sagte Florence und wechselte von Französisch zu Spanisch.
    »Es war nicht schwer zu erraten, oder?« Manuel lächelte schief. »Mein Vater versucht gerade, mit Ihrem ins Geschäft zu kommen.«
    »Ich wünsche ihm viel Glück.«
    »Das sollten Sie besser nicht«, sagte Manuel. »Mein Vater ist ein geiziger, hinterhältiger, heimtückischer, immer auf seinen Vorteil bedachter Mistkerl.«
    »Ach?« Florence hob beide Brauen. »Nette Beschreibung. Vielleicht sollte ich meinen Vater warnen.«
    Manuel zuckte die Schultern und trat einen Schritt zur Seite, wurde zu einer Silhouette vor den Lichtern von Marseille. »Vielleicht sollten Sie das.«
    »Aber wissen Sie was? An meinem Vater wird sich der Ihre die Zähne ausbeißen.« Florence drehte sich um und blickte in den Saal mit dem Orchester auf der einen Seite und dem Büfett auf der anderen, dazwischen die Gruppen elegant gekleideter Herren, Damen und Dämchen. Plötzlich fühlte sie sich angeödet. »Was Ihre Frage betrifft … Ja, ich langweile mich. Kennen Sie einen interessanteren Ort?«
    Manuel zeigte seine weißen Zähne und streckte die Hand aus. »Lassen Sie sich überraschen.«

11
    D as Messer war in Florences Schädel zurückgekehrt, aber es war kleiner und schnitt langsamer als vorher, ließ manche Gedanken und Gefühle entkommen. Sie blieb ganz ruhig liegen, ohne einen Muskel zu rühren, öffnete nicht einmal die Augen und wartete, bis der Schmerz im Kopf und die Taubheit in den Lidern nachließen. Dann hob sie vorsichtig die Lider.
    Sie lag allein in einem dunklen Patientenzimmer. Die Jalousie war nur halb geschlossen, und von draußen kam etwas Licht von einem Dreiviertelmond, das die Umrisse des Interieurs aus der Düsternis schälte: ein Tisch mit zwei Stühlen an der Wand, daneben die Tür des Badezimmers; ein Schrank; das Bett, in dem Florence lag, mit dem Nachtschränkchen daneben, darauf ein Gerät, dessen Display Wellenmuster zeigte, die langsam von links nach rechts wanderten. Sie veränderten sich, während Florence sie betrachtete, schlugen weiter nach oben aus, und mehrere Kontrollindikatoren blinkten.
    Noch immer schnitt das Messer in ihrem Kopf, als sie instinktiv nach den kabellosen Sensoren an Stirn und Schläfen griff, sie von der Haut löste und neben das Überwachungsgerät aufs Nachtschränkchen legte. Die Wellen auf dem Display wurden flacher und innerhalb von zwei, drei Sekunden zu einer geraden Linie; die Indikatoren erloschen. Ein akustisches Warnsignal erklang, aber das Piepen wiederholte sich nur einmal, dann hatte Florence das Gerät ausgeschaltet.
    Stille herrschte. Florence hörte das leise Zischen ihres Atems und lauschte.
    Es näherten sich keine Schritte durch den Flur. Alles blieb still. Die Messerspitze kratzte über die Innenseite von Florences Schädel, als sie aufstand, einige Schritte weit ging, im Dunkeln stehen blieb und sich fragte, was sie eigentlich machte. Warum hatte sie die Sensoren gelöst und das Gerät ausgeschaltet, damit es keinen Alarm gab? Immerhin diente es zu ihrer Sicherheit: Es sollte Alarm geben, wenn die biometrischen Werte über ein gewisses Maß stiegen oder darunter sanken – das diente zur Sicherheit des Patienten.
    Florence folgte auch weiterhin der Stimme ihres Instinkts, als sie den Schrank öffnete, der ihre Sachen enthielt: feste Halbschuhe, eine dunkle, fleckige Leinenhose, einen Wollpullover und eine Jacke, Zachs Jacke. Florence starrte darauf und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, die plötzlich neben der kleiner gewordenen Klinge in ihrem Gehirn sprangen. Sie wagte es nicht, sich auf einen davon zu konzentrieren, einen ganz bestimmten, aus Furcht, ihn zu verscheuchen oder ihm zu viel Realität zu geben. Rasch legte sie den Patientenkittel ab, streifte Hose und Pullover über, trat in die Schuhe und nahm nach kurzem Zögern auch die Jacke, obwohl es recht warm war. Dann öffnete sie leise die Tür und trat in den Flur.
    In Abständen von einigen Metern glühten kleine Nachtlampen in halber Höhe an den Wänden, genug Licht für Florence, deren Augen sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie schloss die Tür hinter sich, damit für jemanden, der hier vorbeikam, alles in Ordnung zu sein schien, huschte dann auf Zehenspitzen durch den Korridor, auf der Suche nach etwas, von dem sie selbst nicht wusste,

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