Seelenfänger
was es war.
Hinter den Fenstern der Schwesternstation saß eine dickliche ältere Frau, kehrte Florence den Rücken zu und gab den Text eines Berichts in ihr Terminal. Als sie an der Station vorbeischlich, duckte sich Florence, damit sie nicht als Spiegelbild auf dem flachen Monitor vor der Nachtschwester erschien, und aus dem Augenwinkel sah sie die Uhr an der Wand: Es war halb vier nachts, beziehungsweise morgens.
Was mache ich hier?, dachte sie. Warum schleiche ich mit ten in der Nacht durch den Patiententrakt der Foundation?
Sie brachte die nächste Ecke des Korridors hinter sich, verharrte dort kurz, um Atem zu schöpfen, sah eine ganz bestimmte Tür und wusste, dass Antwort auf sie wartete, oder zumindest Teil einer Antwort. Einige rasche Schritte, vom Teppichboden gedämpft, brachten sie zu der Tür, und wenige Sekunden später befand sich Florence in einem Zimmer, in dem Lebenserhaltungsmaschinen ein Bett umgaben. Dort lag, vom leisen Summen der Apparate begleitet, eine Frau mit dunklem Haar, Tochter eines Palästinensers und einer Israelitin, fünf Jahre jünger als sie, wie in tiefem Schlaf. Aber Penelope schlief nicht. Sie lag im Koma, wenn man es Koma nennen konnte; ihre Seele war verschollen.
Für einige Sekunden blieb Florence mitten im Zimmer stehen, lauschte dem Summen der Apparate, die Penelope am Leben erhielten, und fühlte plötzlich so etwas wie Beklemmung, als fürchtete sie sich vor etwas. Dann näherte sie sich dem Bett und sah auf Penelope hinab.
Auch in diesem Zimmer waren die Jalousien nicht ganz heruntergelassen, und etwas Mondschein fiel herein. Hinzu kam das Licht von den Indikatoren und kleinen Bildschirmen der Geräte. In diesem matten Schein sah Florence, dass die Flecken an der Stirn der Ruhenden fehlten. Sie beugte sich vor, griff langsam und vorsichtig nach den warmen Händen, drehte sie und stellte fest, dass sie an den Innenseiten keine Verfärbungen aufwiesen.
Die Stigmata waren nicht mehr da.
Florence richtete sich wieder auf, und wieder stand sie einige Sekunden völlig reglos. Das Messer in ihrem Kopf schnitt und kratzte nicht mehr, schien zu warten. Vielleicht auf einen Gedanken, den sie noch nicht ganz zu denken wagte. Sie sah zum Fenster, zu den Jalousien und dem Mond dahinter, und wie von seinem matten Schein an gezogen setzte sie einen Fuß vor den anderen, öffnete die Jalousien und sah nach draußen.
Unter ihr erstreckte sich Sea City, aber im Norden fehlte ein großes Stück, wie von einem großen Maul aus der schwimmenden Stadt gebissen. An den geschwärzten Rändern des Lochs stieg Rauch auf, und Einsatzgruppen waren noch immer damit beschäftigt, die Reste von Feuern zu löschen. Nicht weit davon entfernt, auf der linken Seite – die im Jargon der Stadt immer »Westen« hieß, auch wenn sie bei den langsamen Fahrten über den Pazifik manchmal in andere Richtungen zeigte –, begleitete ein Kriegsschiff die maritime Metropole. Ob Freund oder Feind, wusste Florence nicht zu sagen, denn sie konnte weder Flagge noch Hoheitszeichen erkennen, aber sowohl der zerstörte, fehlende Teil der Stadt als auch die Präsenz des Kriegsschiffs bestätigten, was ihr bereits Penelopes fehlende Stigmata mitgeteilt hatten: Dies war nicht ihre Welt. Sie war nicht zurückgekehrt, befand sich noch immer auf der Reise, noch immer im Space.
Wie so etwas möglich sein konnte, blieb ihr ein Rätsel. Die Tetranol-Phase war inzwischen längst zu Ende gegangen, und es bestand auch keine Verbindung mehr zu Lily. Florence hob die Hand zum Ohr, aber natürlich fehlte das Interface-Äquivalent; sie wusste nicht einmal, ob sie mit dem kleinen Gerät hier erschienen war, wo auch immer »hier« sein mochte. Ohne Tetra und ohne einen Interface-Kontakt hätte sie in die Realität zurückfallen müssen, denn sie war keine Travellerin.
Sie saß fest.
Die Erkenntnis war so verblüffend und schockierend, das sie schwankte und sich an der Fensterbank abstützen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr Instinkt hatte schneller begriffen und sie hierhergeführt, damit sie es mit eigenen Augen sah und verstand. Die Personen, die sie bei ihrem Erwachen gesehen hatte, Anderson und Agnes, die Nachtschwester in ihrem Büro … So vertraut sie ihr auch erscheinen mochten, sie existierten nicht wirklich, waren Teil einer fremden Geisteswelt.
Taniker, dachte Florence. Agnes hatte »Taniker« gesagt, nicht »Teneker«. Und sie hatte eine andere Frisur gehabt, und einen seltsamen Fleck an der
Weitere Kostenlose Bücher