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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Florence erkannte ihn als den Versuch zu fliehen, vielleicht vor ihrer eigenen Verantwortung einer dem Ruin preisgegebenen Welt gegenüber. Und möglicherweise glaubte ihr Unterbewusstsein, ihre Eltern durch den eigenen Tod für ihre jahrelange Gleichgültigkeit bestrafen zu können.
    Der Tod ist kein Ausweg, dachte sie. Der Tod ist nie ein Ausweg. Ihr Blick strich über die nächtliche Stadt, bis hin zum täuschend ruhig daliegenden Mittelmeer, und sie fragte sich, wie viele Menschen dort unten täglich um ihr Über leben kämpften. Sie selbst zählte zu den Privilegierten, zu denen, die sich aussuchen konnten, was sie mit ihrem Leben machen wollten; die meisten Menschen mussten die Dinge nehmen, wie sie kamen, ohne eine Wahl zu haben. Das Meer dort hinten, es wird sich die Stadt nehmen, dachte sie. Diese und andere. Es wird sie überfluten, und dann werden noch mehr Menschen ums Überleben kämpfen, hier und überall auf der Welt. Während meine Mutter Sekt trinkt und den Sinn ihres Lebens darin sieht, möglichst viele Partys und Empfänge zu besuchen. Und während mein Vater Geschäfte macht, neue Beziehungen knüpft und seinen Einfluss auf die nationale und internationale Politik vergrößert. Die Welt geht zugrunde, und diese Leute hier ziehen sich hinter ihre Dämme und Deiche zurück, oder auf eine der schwimmenden Städte, die von multinationalen Konsortien gebaut werden.
    Florence lauschte den eigenen Gedanken und fragte sich, warum sie an diesem Abend so verbittert war, und so niedergeschlagen. Nicht deshalb, weil sich ihre Mutter nicht daran erinnert hatte, was sie studierte, oder weil ihre Eltern selbst jetzt – hier, an diesem Ort – keine Zeit für sie hatten. Daran war sie längst gewöhnt, an das Alleinsein. Die vergangenen zehn Jahre hatte sie in verschiedenen Internaten verbracht, die letzten drei in Zürich, davor in Madrid, Rom und London. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Mutter, die damals noch nicht so oft betrunken gewesen war: »Wir möchten, dass du eine gute Bildung erhältst, Kind. Die beste, die es gibt. Deshalb schicken wird dich auf die besten Internate.« Und ihr Vater hatte hinzugefügt: »Natürlich sind wir jederzeit für dich da und nie weiter entfernt als einen Anruf.« Und selbst vorher, als sie noch »zu Hause« gewesen war, mal in den Vereinigten Staaten, mal in Trinidad und Tobago, Brasilien, Südafrika, Dubai und Indien, hatten sich Gouvernanten und Hauslehrer um sie gekümmert, meistens nur jeweils einige Monate lang. Immer dann, wenn Florence begonnen hatte, jemanden lieb zu gewin nen, musste sie Abschied nehmen, weil Ferdinand Legrandes Geschäfte die Familie »zwangen«, auf einen anderen Kontinent umzuziehen. Schließlich hatte sie gelernt, weiteren Enttäuschungen vorzubeugen, indem sie keine zu engen Beziehungen mehr knüpfte, worunter später auch ihre Freundschaften an den Internaten litten. Niemand stand ihr nahe, weil sie niemanden nahe genug an sich herankommen ließ. Echte Freundschaften gab es nicht in ihrem Leben.
    Hier war sie nun, in einer der prächtigsten Villen ihres Vaters, umgeben von mehr als dreihundert geladenen Gästen, die gekommen waren, um Elvira Alessandra Legrands fünfundvierzigsten Geburtstag zu feiern, aber sie hätte genauso gut allein sein können.
    »Langweilen Sie sich?«
    Die Stimme kam aus der dunklen Ecke des Balkons, und als Florence genauer hinsah, erkannte sie einen jungen Mann, der einen eleganten – vermutlich maßgeschneiderten – anthrazitgrauen Anzug trug. Es war ein südländischer Typ, Spanier oder Italiener, groß, schlank, mit mittellangem dunklem Haar, olivfarbener Haut und einem modischen Dreitagebart. Florence war ihm bestimmt vorgestellt worden, erinnerte sich aber nicht an seinen Namen.
    »Vor wem haben Sie sich versteckt?«, fragte sie. »Oder haben Sie auf der Lauer gelegen?«
    Der junge Mann – er schien nur einige Jahre älter zu sein als sie – lächelte und kam näher. Es war ein freundliches Lächeln, keine Maske, soweit Florence das beurteilen konnte. »Weder noch. Ich kann Mozart nichts abgewinnen, obwohl ich ihn spiele …« Er hob die Hände und bewegte die Finger wie auf einer Klaviatur. »Und ich hasse das Herumgestehe mit Sektgläsern in der Hand. Sie haben Ihres eine Viertelstunde in der Hand gehalten, ohne einen Schluck zu trinken.«
    »Haben Sie mich beobachtet?«
    »Bekenne mich schuldig. Sie sind die Tochter des Hauses, nicht wahr? Florence Legrande, schön wie ihre Mutter zu ihren besten

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