Seelenfänger
schmutzig und laut in Erinnerung hatte. Elvira trauerte vielem nach, vor allem ihrer Jugend und der verlorenen Freiheit, obwohl ihr der französische Großindustrielle Ferdinand Legrand Zugang zu gesellschaftlichen Kreisen ermöglichte, die ihr selbst zu besten Model-Zeiten verwehrt geblieben waren. Dass sie jetzt über die Dreißiger hinaus war, machte es nicht einfacher, weder für sie noch für alle, die mit ihr zu tun hatten. Sie gehörte zu den Menschen, die imstande waren, sich aus Angst vor dem Tod umzubringen.
Um sie herum fand die Geburtstagsparty statt, mit der steifen Förmlichkeit eines offiziellen Empfangs in einer Botschaft. Auf der einen Seite des großen Festsaals spielte ein Streichquartett Mozart, und im Halbkreis vor den Musikern standen Dutzende von Männern in dunklen Anzügen und Frauen in Abendkleidern. Auf der anderen Seite gab es ein üppiges Büfett, und davor hatten sich kleine Gesprächsgruppen gebildet, hier aus Geschäftsleuten und Politikern, dort aus Ehefrauen und Mätressen. Florences Vater sprach gerade mit dem französischen Premierminister, dessen Leibwächter einen diskreten Abstand wahrten und versuchten, nicht zu sehr aufzufallen. Vor zwei Stunden hatten sie einige knappe Worte gewechselt; mehr Zeit hatte Ferdinand für seine Tochter nicht erübrigen können: »Es tut mir sehr leid, Schatz, aber ich muss heute Abend einige sehr wichtige Dinge mit gewissen Leuten besprechen; vielleicht haben wir später Gelegenheit, uns ein wenig zu unterhalten.«
Das war ein bisschen wenig, nachdem sie sich fast drei Monate nicht gesehen hatten, fand Florence.
»Ich habe vor einem halben Jahr mit dem Studium begonnen, Mutter«, sagte sie, während von der einen Seite Mozart-Klänge über sie hinwegrauschten und von der anderen Gesprächsfetzen herangetragen wurden. »Und ich studiere nicht Medizin, sondern empathische Psychologie.«
»O ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Empathische Psychologie, was immer das auch sein mag.« Elvira schüttelte ihr schwarzes Haar zurück, eine einstudierte Geste, die zur Routine geworden war. »Du willst all den Verrückten dort draußen helfen. Ach, Kind, warum genießt du nicht einfach das Leben? Sobald du dein Studium hinter dir hast, meine ich. Es ist so kurz, das Leben, und den Verrückten dort draußen ist ohnehin nicht zu helfen. Die Welt spielt verrückt; kein Wunder, dass so viele Leute überschnappen. Oh, da ist Dolores.« Elvira winkte mit der freien Hand. »Entschuldige, Kind, aber ich muss unbedingt mit Dolores reden. Wir sehen uns später, ja? Dann kannst du mir erklären, was es mit dieser empathischen Psychologie auf sich hat.«
Das habe ich dir schon bei unserer letzten Begegnung erklärt, dachte Florence und sah ihrer Mutter nach, als sie einer schmuckbehangenen, in die Jahre gekommenen Spanierin entgegenstolzierte, die immer mehr Make-up trug, je älter sie wurde. Vor einem Jahr hatte Dolores ein Bankenimperium von ihrem Mann geerbt, der bei einem Helikopterunfall in Sibirien unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war, und Florence wusste, dass ihr Vater sie dazu überredet hatte, einen Teil des immensen Vermögens dem Philanthropischen Institut zur Verfügung zu stellen. Das war nach Florences Meinung die einzige gute Sache in diesem Teil der globalen Gesellschaft, der glaubte, so weitermachen zu können wie bisher: dass er mit einem Teil seines Reichtums das Philanthropische Institut unterstützte.
Florence ging zum nächsten Tisch und stellte dort ihr Sektglas ab, das sie seit einer Viertelstunde in der Hand hielt, ohne einen einzigen Schluck getrunken zu haben, verließ dann den Saal und trat auf einen der Balkone der schlossartigen Villa. Kühle empfing sie, und der Wind wehte ihr den würzigen Geruch des Meeres entgegen. Am Fuß des Hügels breiteten sich nach Südosten hin die Lichter von Marseille aus, und ein Brummen hing in der Luft: der Verkehr der Stadt.
Florence stützte die Hände auf die Brüstung, blickte den steilen Hang hinunter und fragte sich für einen verrückten Moment, was geschehen würde, wenn sie aufs Geländer kletterte und sprang. Ich würde in die Tiefe stürzen und sterben, beantwortete sie sich ihre Frage, und für einen weiteren, nicht minder verrückten Moment verband sich ein seltsamer Reiz mit dieser Vorstellung. Das Leben beenden, die eigene Existenz auslöschen, nicht mehr da sein, sich dem großen Nichts hingeben, Dunkelheit und Vergessen … Der Gedanke hatte etwas Verlockendes.
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