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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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schützen, Jonas, uns und die Sea Citys, die bald die letzte Hoffnung der Menschheit sein werden.« Er zeigte erneut auf den Rekorder. »Darf ich darauf vertrauen, dass Sie die Aufzeichnung löschen und alles vertraulich behandeln?«
    Rasmussen zögerte – etwas zu lange, fand Thorpe –, nickte dann und stand auf. »Ja.«
    »Danke, Jonas, das weiß ich sehr zu schätzen.« Thorpe schenkte dem Leiter der Foundation ein erleichtert wirkendes Lächeln und verließ das Zimmer. Als er durch den Flur ging, dachte er an Nathan Fukuroku und den anderen Teil der Wahrheit, den er Rasmussen verschwiegen hatte.

Ein Anfang
    10
    E in Messer steckte in ihrem Schädel, scharf und heiß, zerschnitt Gedanken und Gefühle, stach von innen in die Augäpfel, bohrte sich in Kleinhirn und Rückenmark. Florence spürte jede einzelne Bewegung dieses Messers, jeden noch so kleinen Schnitt, und wer auch immer behauptete, das Gehirn könnte keinen Schmerz empfinden: Er irrte sich.
    Ein Gesicht erschien über ihr, rund, der Kopf kahl. Anderson, dachte sie.
    »Ruhig, Florence«, sagte er. »Wir holen Sie ganz zurück. Die anderen machen sich gerade bereit. Bewegen Sie die Pupillen, wenn Sie mich verstehen, von rechts nach links.«
    Panik durchflutete Florence, aber sie bewegte die Pupillen von rechts nach links. Was war mit ihrem Körper? Warum konnte sie sich nicht bewegen?
    »Sie fragen sich bestimmt, warum Sie sich nicht bewegen können.« Das war eine andere Stimme, und sie kam von einer Frau in mittleren Jahren, mit krausem Haar und Krähenfüßen in den Augenwinkeln. Die Frisur hatte sich geändert, und sie hatte einen seltsamen Fleck an der Stirn, offenbar eine kleine Tätowierung, wie ein Barcode, aber es handelte sich eindeutig um Agnes. Sie hob einen Injektor und gab eine Ampulle mit klarer Flüssigkeit hinein. »Die unkontrollierte Rückkehr hat einen paralysierenden Schock verursacht, Florence. Und etwas hat versucht, sie festzuhalten, so wie Taniker. Ein Teil von Ihnen steckt noch in dem Patienten, den Fukuroku gebracht hat.«
    Der Patient, dachte Florence. Haruko Isamu Abe, ein Netzwerk-Spezialist von Samsung-Nippon. Sie erinnerte sich genau an seinen Namen, selbst in diesem Zustand. Wieso erinnerte sich Agnes nicht an Tenekers Namen? Warum sprach sie ihn falsch aus?
    Und dann dachte sie: Die anderen dürfen nicht auf die Reise gehen. Der Seelenfänger wartet auf sie.
    Sie versuchte zu sprechen, aber die Lähmung betraf auch den Mund. Ihre Gedanken schrien, aber Zunge und Lippen blieben stumm.
    »Bestimmt herrscht in Ihnen ein ziemlicher Aufruhr«, sagte Agnes und lächelte. Andere Personen befanden sich in der Nähe, erschienen aber nicht in Florences Blickfeld, und ihre Stimmen blieben undeutlich. »Dies wird Ihnen Ruhe verschaffen, bis Sie wieder ganz hier sind.« Sie lächelte. »Keine Sorge, wir kümmern uns gut um Sie.«
    Nein!, riefen ihre Gedanken, aber der Ruf hallte nur durch das Innere ihres Kopfes. Die anderen durften sich nicht transferieren; es würde ihnen ebenso ergehen wie Teneker.
    Teneker, nicht Taniker, dachte Florence, als der Injektor an ihrem Arm zischte, oder vielleicht am Hals.
    Das Messer zog sich aus ihrem Schädel zurück, wurde ersetzt durch etwas, das sich zäh wie Melasse anfühlte, in dem all die zerschnittenen Gedanken und Gefühle feststeckten wie Insekten in Honig.
    Erinnerungen, wie in Bernstein eingeschlossen – oder wie Insekten in Honig –, sprossen in der Dämmerung ihres betäubten Geistes.
    »Vergiss das mit Noblesse oblige «, sagte ihre Mutter bei einem der selten Gespräche mit ihr, beziehungsweise bei einem der Monologe, die sie an sie richtete, ohne Antworten zu erwarten und ohne auf sie zu achten. »Genieß das Leben, Kind«, fügte sie hinzu, leerte ihr Sektglas und ließ sich von einem Kellner ein volles reichen. »Ich meine, genieß das Leben, sobald du deinen Abschluss hast. Abschlüsse sind wichtig. Man muss was vorweisen können. Was macht dein Studium?« Sie zögerte, das Glas an den Lippen, die Wangen ein wenig rosig, der Blick nicht mehr ganz klar. »Du studierst doch, nicht wahr? Und was war es noch gleich? Medizin?«
    Elvira Alessandra Legrand, geborene da Silva, seit einem knappen Tag fünfundvierzig Jahre alt, schlank, schön, elegant und angetrunken, wie so oft. Als ehemaliges portugiesisches Topmodel hatte sie die Titelseiten zahlreicher Modezeitschriften geziert und trauerte dem Lissabon vor dem letzten atlantischen Tsunami nach, einer Stadt, die Florence als

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