Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
seiner Stirn, die sich aber schon zu schließen begann. Die Reflexe, die er in den vergangenen Monaten erlernt hatte, halfen ihm nun. Florence beobachtete ihn, und gleichzeitig beobachtete sie sich selbst, wie sie in den Gurten hing, halb auf der Fahrerseite, und Zacharias’ Reaktionen zur Kenntnis nahm – dies waren ihre Reflexe, ebenso tief in ihr verwurzelt wie seine in ihm.
    Er bemerkte ihren Blick. »Jetzt bin ich endgültig durchgefallen, nicht wahr?«, fragte er betroffen. Und mit neuem Zorn fügte er hinzu: »Das aufmerksame Auge sieht alles, hält alles fest und wird über alles Bericht erstatten. Und ich? Was bleibt mir? Ein Leben in einem Rollstuhl, als Gelähmter. Zum Glück wird es ein kurzes Leben sein.«
    »Hör auf damit, Zach«, sagte Florence. Draußen heulte der Wind, und gelegentlich knackte es laut, wie von nachgebendem Eis. Der Wagen rutschte ein Stück, kam dann erneut zur Ruhe. »Denk an die Mission.«
    »Zum Teufel mit der Mission. Scheiß drauf.« Inzwischen war die Platzwunde aus Zacharias’ Stirn verschwunden. Er blieb auf der Seite liegen, die Beine noch immer unter dem Steuer, den Oberkörper auf dem Seitenfenster, das heil geblieben war. Er versuchte nicht einmal, die Gurte zu lösen. Florence brauchte keine besonderen empathischen Fähigkeiten, um zu verstehen, was in ihm vor sich ging. Er war verzweifelt, aber er wandelte auf einem schmalen emotionalen Grat, mit hilflosem Zorn auf der einen Seite und einer tiefen Schlucht des Selbstmitleids auf der anderen.
    »Hör auf damit«, sagte sie mit etwas mehr Nachdruck. »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden.«
    Er drehte verblüfft den Kopf und sah zu ihr hoch, und für einen Moment brannte es in seinen Augen. Florence glaubte sogar, die Hitze seines Zorns zu spüren, was vielleicht auf einen synästhetischen Effekt der Interface-Verbindung zurückzuführen war. Für einige Sekunden brannte das Feuer in Zacharias’ Augen so hell und heiß, dass sie befürchtete, er könnte sie schlagen. Damit wäre die Grenze eindeutig überschritten gewesen – sie hätte es melden müssen. Für Zacharias hätte es bedeutet, wieder ganz am Anfang zu stehen, und das wäre für ihn ein vielleicht noch schwererer Schlag gewesen als die Nachricht von der bevorstehenden Lähmung. Er war ein großes Talent, das wusste er, und er wollte der Beste sein. Aus diesem Ehrgeiz bezog er einen großen Teil seiner Kraft, und das Wissen, es tatsächlich schaffen zu können, wenn er sich ausreichend Mühe gab, bestimmte sein Selbstwertgefühl. Wenn ihm das genommen wurde, brach er innerlich zusammen, und dann war er nicht nur körperlich ein Wrack, sondern auch geistig.
    So weit durfte Florence es nicht kommen lassen.
    »Siehst du das hier?« Sie wartete, bis sie seine volle Aufmerksamkeit hatte, nahm dann das Interface-Äquivalent vom Ohr und steckte es in eine Tasche ihres Mantels. »So, Lily empfängt keine Daten mehr. Wir sind offline.«
    Zacharias sah sie groß an.
    »Vielleicht war es ein Fehler, dir während eines Tests zu sagen, wie es um dich steht«, sagte Florence eindringlich. »Ich hielt es für richtig, ganz offen zu sein und dir die Wahrheit zu sagen, aber vielleicht habe ich den falschen Zeitpunkt gewählt. Wie dem auch sei, ich werde nicht zulassen, dass du dich ruinierst. Du wirst diesen Test bestehen.«
    Zacharias deutete auf die Manteltasche mit dem Interface-Äquivalent. »Darfst du das abnehmen, während eines Tests? Einfach so.«
    »Nein, natürlich nicht. Keine Sorge, mit fällt schon irgendeine Erklärung ein. Zach, ich möchte, dass du dich jetzt konzentrierst. Wir hatten einen Unfall. Wir sind im Schneesturm von der Straße abgekommen und haben uns überschlagen, sind aber glücklicherweise unverletzt geblieben.«
    Zacharias seufzte. »Es war meine Schuld.«
    »Die vereiste Straße, das war der Grund«, fuhr Florence fort. Sie wusste, dass sie gegen die Regeln verstieß, aber sie wusste auch, dass die Regeln nicht ehern waren, kein starres Gerüst, das sich nicht verformen ließ. Das galt erst recht dann, wenn es um Menschen ging. »Wir sind verunglückt und … Wie weit ist es noch bis nach Lingbeek?«
    Zacharias sah auf die Instrumente. »Das Navigationsgerät empfängt keine Peilsignale mehr.«
    »Als du die Entfernung zum letzten Mal überprüft hast, waren es noch knapp dreißig Kilometer«, sagte Florence. »Wir brauchen die Navigation gar nicht. Wir haben dich. Was sagt dein Radar?«
    Zacharias starrte einige Sekunden lang ins Leere,

Weitere Kostenlose Bücher