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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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die Entwicklung von Kontinenten und Meeren, von Bergen, Wäldern und Städten. In manchen Nischen standen globale Entwicklungen im Vordergrund: die Form von Höhenzügen, die Kontinente durchzogen und sich am Meeresgrund fortsetzten; die Strömungen von Luft und Wasser, die Beschaffenheit des Bodens, Sand oder fruchtbare Erde, bereit für die Saat. Die Bilder in anderen Teilen des ersten Saals präsentierten Entwürfe für Pflanzen und Tiere, die Zacharias nicht nur fremdartig erschienen, sondern sogar absurd: Kreuzungen aus Elefant und Krokodil, Büffel mit Flügeln und Schnäbeln anstatt Hörnern, Schlangen nicht mit Schuppen, sondern mit Federn, Mammutbäume mit Augen und Ohren. Der Weltenbauer, dessen Fantasie diese Kreaturen ent warf, ein Junge, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, wanderte stolz um die Bilder herum, bemerkte Zacharias’ verwunderten Blick und sagte: »Alles ist möglich. Alles.« Dann lachte er und winkte und rief: »Herzlich willkommen bei den Weltenbauern, Zacharias! Wir sind alle froh, das du hier bist!«
    Salomo lächelte zufrieden, während Kronenbergs Gesicht maskenhaft starr blieb – seine Nase blutete noch immer, obwohl inzwischen Stunden vergangen waren, vielleicht sogar Tage; Zacharias wusste es nicht genau.
    Sie gingen die Treppe hoch; ihre Stufen bestanden aus klarem Kristall, durchzogen von roten Linien wie dünne Adern. In den beiden oberen Etagen erwarteten Zacharias weitere Welten in langsam rotierenden Bildern, dreidimensional und zum Greifen nahe: tropische Inseln inmitten von Meeren, die ebenso viele Farben zeigten wie Prisma; hohe Bergketten mit uralten Gletschern, tiefen Schründen und vom Wind geschaffenen Eisskulpturen; Wüsten aus Sand und Felsen, in deren Schatten Eidechsen auf der Lauer lagen und mit langen Zungen nach kleinen Käfern schnapp ten, die aus dem abkühlenden Boden krochen; endlose Tundren, kalte Steppen, in denen nicht ein einziger Baum wuchs; Nebelwälder an den Hängen von Gebirgen, die in tropischen Zonen gen Himmel ragten … Viel häufiger als diese »reinen« Landschaften, die sich bestimmten Kategorien zuordnen ließen, waren Mischungen aus ihnen, die manchmal den Eindruck erweckten, von anderen Planeten zu stammen. Es gab auch Absurdes, wie zum Beispiel eine endlose Wiese mit Bäumen, an denen keine Früchte hingen, sondern alle Arten von Süßigkeiten; anstelle von Pilzen wuchsen Torten aus dem Boden, und in den Bächen floss kein Wasser, sondern Limonade. Kinder mit Blumen im Haar tollten umher und stopften sich den Mund mit Leckereien aller Art voll, bis Soldaten in der Gestalt von anderthalb Meter großen Gummibären erschienen und Zuckerstangen wie Lanzen schwangen.
    Auch in den beiden oberen Stockwerken gab es viele von Raumteilern begrenzte Nischen mit rotierenden Bildern, doch nur wenige Personen, die sie betrachteten und damit beschäftigt waren, sie zu verändern und zu ergänzen.
    »Wir haben nicht viele Weltenbauer, und die meisten sind jetzt zu Hause und bereiten sich auf die Nachtruhe vor«, erklärte Salomo. »Morgen kannst du die anderen kennenlernen und dir von ihnen erklären lassen, was es mit dem Bau von Welten auf sich hat.«
    Im letzten Raum des dritten Stocks begegneten sie dem ältesten Weltenbauer, den sie bisher gesehen hatten, einem Mann um die sechzig, der zurückgelehnt in einem Lehnsessel saß, die dünnen Arme auf den Lehnen und die knochigen Hände so fest um ihre Enden geschlossen, dass sie weiß geworden waren. Er hatte ein hageres Gesicht, wie aus Stein gemeißelt, von tiefen Linien der Anspannung durchzogen. Als sie sich seiner Nische näherten, hob Salomo den Zeigefinger vor die Lippen, und Zacharias verstand und verzichtete auf Fragen. Die Bilder vor dem schmächtigen Mann im Lehnsessel zeigten eine Welt in Flammen: Auf der einen Seite brannte eine Stadt, auf der anderen die hohen Bäume eines Waldes. In der Mitte zwischen Stadt und Wald gab es einen offenen Bereich mit einem Springbrunnen, der jenem ähnelte, an dem Zacharias auf dem Platz vor dem tempelartigen Gebäude vorbeigelaufen war. Dort saßen zwei kleine Kinder, etwa im Alter von Estell und Lucius, wie er sie auf dem Rasen vor der portugiesischen Villa beobachtet hatte. Eng umschlungen hockten sie auf dem Rand des Springbrunnens und zitterten vor Angst, als grässliche Gestalten vor ihnen aus der Stadt kamen, und auch hinter ihnen aus dem brennenden Wald: lebende Tote, Zombies, begleitet von Ungeheuern, die hauptsächlich aus Zähnen und Krallen zu

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