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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Zacharias zugewiesen hatte. Er war das größte Talent unter den Travellern, aber auch das schwierigste, nicht zuletzt wegen seiner Krankheit, die ihn manchmal starken Stimmungsschwankungen unterwarf. Hinzu kam, dass er allein war, trotz der Gesellschaft der anderen Traveller. Er hatte eine Blase der Einsamkeit um sich herum geschaffen, und was Florence darin spürte, erinnerte sie an sie selbst. Dadurch fühlte sie sich ihm sehr nahe, so nahe, dass sie manchmal befürchtete, nicht mehr den Abstand halten zu können, denn ein Therapeut halten sollte, um gute Arbeit zu leisten.
    »Es kann dich nicht wirklich überraschen«, sagte sie behutsam. »Dir muss klar gewesen sein, dass deine ALS früher oder später eine kritische Phase erreicht.«
    Zacharias schwieg, und einige Sekunden lang waren nur das Brummen des Motors und das Heulen des Schneesturms zu hören. »Eine ›kritische Phase‹, hör sich das einer an!«, stieß er dann hervor. Seine Hände schlossen sich fester ums Lenkrad, und er gab noch etwas mehr Gas. »Wir reden hier davon, dass ich zu einem verdammten Krüppel werde!«
    Lily übermittelte eine Warnung – Zacharias’ Puls stieg und erreichte einen Wert von hundertsiebzig. Sein Körper ruhte reglos in einem Interface-Sessel, doch das Herz schlug so heftig wie das eines Läufers.
    »Wann?«, fragte er und riss das Steuer plötzlich nach rechts, als links eine Eiswand im Schneetreiben erschien. Der Wagen schlingerte. »Wie viel Zeit habe ich noch?«
    »Du fährst zu schnell, Zach.«
    »Wie viel Zeit bleibt mir noch?«
    Er schrie es fast, und Florence dachte: Dies ist meine Schuld. Ich hätte einen anderen Zeitpunkt wählen sollen. Wenn er so weitermacht, besteht er den Test nicht; meine Unerfahrenheit wirft ihn um mindestens ein halbes Jahr zurück.
    »Einige Monate«, sagte sie.
    »Einige Monate bis ich den Rollstuhl brauche? Und dann?«
    »Zach …«
    »Und dann?«
    »Du weißt es, Zach«, sagte Florence mit sanfter Bestimmtheit, während ihr Interface-Äquivalent Daten übermittelte. Lily empfing alles, speicherte die Informationen und wertete sie aus. Alles wurde Zacharias’ Profil hinzugefügt. »Du weißt, was die Amyotrophe Lateralsklerose mir dir anstellt.«
    »Sag du es mir, Florence. Sag es mir!«
    »Die degenerative Erkrankung deines Nervensystems wird immer weiter um sich greifen, bis du ganz gelähmt bist.«
    »Bis ich mich überhaupt nicht mehr bewegen kann! Bis ich so ende wie Stephen Hawking.«
    »Stephen Hawking hat Großartiges geleistet«, sagte Florence. »Das kannst du ebenfalls, auch wenn du gelähmt bist.« Die Worte klangen wie zurechtgelegt, dachte Florence betroffen. Und das waren sie auch: Sie hatte sich diesen Teil des Gesprächs oft vorgestellt. »Du kannst anderen Menschen helfen, hier im Space. Hier wirst du nie krank sein, hier wirst du dich immer bewegen können …«
    »Aber es ist eine Illusion, verdammt! Dieser Wagen, der Schnee dort draußen, wir selbst, alles ist eine verdammte Illusion! Wir sind nur Gedanken in einer Gedankenwelt …«
    Zacharias trat das Gaspedal ganz durch, und der Zorn in ihm war es, der das Lenkrad von einer Seite zur anderen drehte. Der Motor heulte auf, der Wagen schleuderte, und es krachte, als das Fahrzeug gegen Eis schmetterte … das brach und nachgab.
    Der Wagen kippte und überschlug sich, und Florence wurde in den Gurten hin und her gerissen. Geräte und Ausrüstungsgegenstände lösten sich, flogen an ihr vorbei, knallten aufs Armaturenbrett und gegen die Windschutzscheibe. Sie wollte das Notsignal senden, das die Reise unterbrach und sie beide in die Foundation zurückbrachte, aber im letzten Moment zögerte sie, noch immer von Chaos umgeben. Dies war eine Illusion, dachte sie, in dem Punkt hatte Zacharias recht. Es war eine Scheinwelt, über die sie Kontrolle ausüben konnten, und mit der Anweisung an Lily, sie aus dem Space zu holen, gestand sie nicht nur Zacharias’ Versagen bei diesem Test ein, sondern auch ihr eigenes.
    Schließlich kam der Wagen zur Ruhe, auf der linken Seite liegend, mit nur noch einem funktionierenden Scheinwerfer, dessen Licht sich im Schneetreiben verlor. Der Motor stotterte mehrmals und ging aus.
    »Zach?«, fragte Florence in die Stille, nachdem sie die Benommenheit von sich abgeschüttelt hatte.
    Er bewegte sich neben ihr, schlug mit den Händen ans Lenkrad. »Verdammt, verdammt, verdammt !«
    »Bist du verletzt, Zach?«
    Im vom Schnee reflektierten Scheinwerferlicht sah Florence eine Platzwunde an

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