Seelenfeuer
Ebenfalls eine Beifußart. Er wird auch als bitterer Beifuß bezeichnet.«
Pater Wendelins Augen verrieten, wie außerordentlich stolz er auf Luzia war. Dabei merkte sie, wie ihr schon wieder die Wärme in die Wangen stieg. Nachdem auch dieser Setzling mit Erde bedeckt war, reichte der Pater ihr den nächsten.
»Hier haben wir etwas Lieblicheres. Artemisia abrotanum?«
»Die Eberraute. Eine weitere Beifußart. Ihr Duft ist leicht und frisch. Sie wird in der Volkssprache auch Pfarrerkraut genannt«, entgegnete Luzia und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
Während der nächsten halben Stunde gruben sie Löcher, setzten die restlichen Pflanzen ein und drückten die Erde vorsichtig an. Dann betrachteten sie die getane Arbeit. Als Luzia die Kräuter gießen wollte, meinte der Pater:
»Du musst dir keine Sorgen machen, das Wässern werde ich übernehmen! Ich weiß doch, dass du heute Abend wie alle jungen Frauen und Männer zum Johannisfeuer möchtest.«
Luzia nickte zögernd.
An diesem Tag feierten die Menschen das Fest des längsten Tages und der kürzesten Nacht mit dem Sonnwendfeuer. Die katholische Kirche sah das nicht gern und beging stattdessen das Fest des Johannes. Der Pater würde am kommenden Sonntag ausführlich über Johannes predigen. Aber heute würde es keine Andacht geben. Pater Wendelin galt als gemäßigter Gottesmann. Er las die Messe höchstens einmal am Tag, doch mit dieser Haltung machte er sich nicht nur Freunde. Anderen, die dachten wie er, war es schlecht ergangen. Im nahen Elsass war einem Geistlichen, der angeblich dem Bösen verfallen war, vorgeworfen worden, einen Pakt mit dem
Teufel zu unterhalten. Der Papst hatte seine Enthauptung veranlasst. Papst Sixtus beklagte sich, weil immer mehr Menschen vom rechten Glauben abfielen, und warf ihnen vor, sich dem Bösen zuzuwenden.
Pater Wendelin hielt von all diesem verrückten Treiben überhaupt nichts. Wenn sich seine Schäfchen bereitwillig zur heiligen Messe einfanden, ihre Sünden angemessen bereuten und in Frieden miteinander lebten, ließ er die Mitglieder seiner kleinen Gemeinde zufrieden. Dafür liebten die Menschen den gutmütigen Mann. Aber Wendelin war klug genug, um die Gefahren zu sehen, die sein nachsichtiger Umgang mit den alten Mythen mit sich bringen konnte. Er wäre nicht der erste Gottesmann, den die Kirche mit Exkommunikation oder Schlimmerem bedrohte. Wendelin schüttelte ein wenig unwillig den Kopf. An diesem Abend wollte er sich über seinen Garten freuen und sich keine Sorgen machen.
»Ich werde heute früh zu Bett gehen«, sagte er zu Luzia. »Aber vorher lass uns einen Becher Wein auf die getane Arbeit trinken.«
Bei einem Glas Elbling plauderten sie über die Klosterinsel Reichenau.
»Bruder Markus würde dich von Herzen gerne kennenlernen. Möchtest du mich nicht einmal in den fast schon legendären Klostergarten begleiten? Es wäre mir eine Ehre«, versicherte Wendelin mit einem Lächeln.
Luzia fehlten die Worte. Helle Freude wirbelte durch ihren Kopf.
»Pater Wendelin, damit würdet Ihr mir einen meiner innigsten
Wünsche erfüllen! Einmal den wunderschönen Kräutergarten Walahfrid Strabos betreten und ausgiebig studieren zu dürfen! Diesen Wunsch hege ich schon, seitdem mein Onkel Basilius mir zum ersten Mal davon erzählt hat!«
Wendelin wusste, dass Luzias Liebe zu den Heilpflanzen durch die Weitsicht ihres Onkels Basilius geweckt worden war, der die Apotheke in Ravensburg betrieb. Schon früh hatte Basilius den außerordentlich wachen Geist der kleinen Luzia erkannt. Er war es auch gewesen, der das Schulgeld für sie bezahlt hatte, obwohl ihre Mutter den Besuch einer Schule für bloße Zeitverschwendung gehalten hatte.
Und damit hatte das Drama angefangen, das erst mit Luzias Übersiedelung nach Seefelden ein Ende gefunden hatte. Eusebius Grumper, der hartherzige Schulmeister, der zu allem Überfluss auch noch ein Mann der Kirche war, hatte für Luzias wissbegieriges Wesen nicht sonderlich viel übriggehabt. Ihr rotes Haar hatte er mehr als alles andere gehasst. Vom ersten Tag an hatte er sie spüren lassen, dass sie in seinen Augen eine »Rote« war, ein Kind der Wollust. Während der unreinen Tage ihrer Mütter gezeugt, umgaben die Roten etwas zutiefst Sündiges. Nachdem Luzia es zum ersten Mal gewagt hatte, dem Schulmeister vor den anderen Kindern zu widersprechen – es war dabei um den Namen einer Pflanze gegangen und Luzia hatte recht behalten –, hatte Kaplan Grumper keine
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