Seelenfeuer
Gelegenheit ausgelassen, Luzia zu bestrafen. Er demütigte und quälte sie bei jeder Gelegenheit. Manchmal steigerte sich seine Wut ins Unermessliche, weil Luzia nach wie vor unbeirrt zu ihm in den Unterricht kam. Die Unerbittlichkeit des Mädchens war für den Kaplan ein weiterer Beweis für ihre Gefährlichkeit. Ihr rotes Haar, die ungewöhnlich dunkelblauen
Augen und der messerscharfe Verstand – sie alle waren seiner Einschätzung nach augenfällige Hinweise für ihre Andersartigkeit. Stolz und aufrecht trug sie ihr unbedecktes Haar durch die Gassen der Stadt. Daneben fehlte ihr die nötige Demut, was sie zu einer Feindin des wahren Glaubens machte.
»Mädchen wie du gehören hinter dicke Klostermauern, wo sie ihren Mitmenschen keinen Schaden zufügen können, oder besser noch gleich auf den Scheiterhaufen«, brüllte er sie an. Um sie auf den rechten Weg zu bringen, verlangte er von ihr, jeden Sonntag nach der Messe zu ihm zu kommen. Dort zwang er sie, stundenlang auf einem scharfkantigen Holzscheit kniend das Paternoster zu beten. Als die ersten Zeichen ihrer erblühenden Weiblichkeit erkennbar wurden, ging der Schulmeister dazu über, Luzia, während sie auf dem Boden kniete, mit einer Rute zu züchtigen. Dabei hatte er es besonders auf Luzias nacktes Gesäß und ihren entblößten Rücken abgesehen.
Die Vorstellung, wie sich der Kaplan beim Anblick von Luzias knospenden Brüsten ergötzt haben mochte, verursachte Wendelin heute noch Übelkeit. Der Pater hatte oft nach dem Grund für Luzias Beharrlichkeit gesucht. Nach der Quelle, die ihr die Kraft verliehen hatte, diese Jahre zu überleben. »Ich kann es Euch nicht sagen, aber meine Neugier siegte tagtäglich über die furchtbare Angst«, hatte ihm Luzia zur Antwort gegeben. Sie konnte nur von einer höheren Macht gekommen sein, dessen war sich Wendelin sicher. Selbst heute erinnerte sich der Geistliche noch beinahe an jedes ihrer Worte. Nach und nach hatte ihm das Mädchen die ganze Geschichte anvertraut. Einiges davon unter dem Geheimnis
der Beichte. Manchmal waren ihre Geständnisse furchtbar gewesen. So schrecklich, dass auch ihm die Tränen gekommen waren.
»Ich würde Euch wirklich furchtbar gern begleiten«, antwortete Luzia, bevor sie einen Schluck aus ihrem Becher nahm.
Ihre Worte rissen den Pater aus seinen Gedanken. Er atmete tief durch und rieb sich das Gesicht, um die Erinnerungen hinter sich zu lassen. Ein Blick auf Luzia zeigte ihm, dass auch sie an ihre Kindheit in Ravensburg gedacht hatte. Er nickte ihr aufmunternd zu.
»Auf dein Wohl«, sagte er und hob seinen Becher.
»Also ist es beschlossene Sache?«, fragte Luzia nach.
»Bruder Markus wird dich ins Herz schließen und auch du wirst ihn mögen«, versicherte Wendelin und leerte seinen Becher.
»Ich hoffe, das Kind der jungen Schäferin geduldet sich wirklich noch bis morgen. Ich möchte doch so gerne mit den anderen zum Sonnwendfeuer.«
Elisabeth nickte und legte den gewaltigen Hecht zur Seite, den sie gerade schuppte. »Natürlich gehst du hin. Wenn die Schäferin dich braucht, kann man dich benachrichtigen.« Sie seufzte tief. »Die Jugend vergeht viel zu schnell, also nutze jede Gelegenheit zum Tanz.«
Die letzten Worte kamen Elisabeth fast ein wenig traurig über die Lippen. Immerhin hatte die weise Wehmutter bereits die vierzig überschritten. Doch sie war immer noch eine anziehende Frau. Als Jakob zu ihnen in die Küche kam, lehnte sich Elisabeth bei ihm an.
»Wollen wir auch zum Sonnwendtanz gehen?«, neckte sie ihn.
»Wenn du möchtest, begleite ich dich auch zum Sonnwendfeuer.« Jakobs Worte wurden von einem Augenzwinkern begleitet. Sein ehemals dunkles Haar glänzte mittlerweile eher silbern. Was ihn für seine Elisabeth weitaus wertvoller machte. Silber war nun einmal von höherem Wert als Ebenholz, pflegte sie zu sagen. Sein Humor und sein einnehmendes Wesen machten Jakob zu einem gerngesehenen Mann in Seefelden.
»Und du gehst mit Matthias?«, wandte Jakob sich an Luzia.
Luzia hörte die hoffnungsvolle Erwartung in seiner Stimme. Sie wusste, er sähe es gern, wenn sie sich bald entschließen könnte zu heiraten.
»Du weißt, wenn du heute Nacht mit einem Burschen übers Feuer springst, bringt das lebenslanges Glück.«
»Natürlich weiß ich das, und Matthias gibt sicher einen guten Ehemann ab, aber ich bin doch noch viel zu jung zum Heiraten«, versuchte Luzia das leidige Thema zu beenden und begann das Gemüse zu putzen, das in einem Korb auf dem
Weitere Kostenlose Bücher