Seelenfeuer
langsam, aber unaufhaltsam nach oben stieg. Schließlich trennten sie nur noch wenige Handbreit von der Wasseroberfläche. Vom Atem, aber auch von dem unwiderruflichen Beweis, eine Hexe zu sein. Ihr Herz schlug wild gegen ihre Rippen und verwandelte den roten Lebensstrom in einen reißenden Fluss. Luft! Ich brauche Luft, dachte Luzia verzweifelt. Mit aller Kraft versuchte sie dem Unabwendbaren zu entgehen. Sie wollte strampeln und sich zur Wehr setzen, aber all ihre Bemühungen, erneut auf den Grund des Weihers zu sinken, wurden von den Tauen erstickt. Ihre Versuche,
sich gegen das Auftauchen zu wehren, brachten sie der tödlichen Grenze nur immer näher…
»Atme langsam aus!«, hallten Johannes’ Worte plötzlich in ihrem Kopf. »Nur wenn sich in deinen Lungen keine Luft mehr befindet, sinkst du zum Grund. Bewahre die Ruhe und rufe dir die Sterne ins Gedächtnis!«, vernahm sie seine Stimme.
Luzia schloss die Augen, und mit der Dunkelheit kam die Erinnerung an das Sternbild des fliehenden Flügelrosses. Eins, zwei, drei, vier … sie zählte jeden einzelnen Stern, der ihr ein rettendes Leuchtfeuer war. Hinter ihren Lidern bildete sich das große Viereck. Vom südöstlichen Eckpunkt folgte eine weitere Reihe Sterne. Insgesamt zählte sie siebzehn Lichtpunkte. Siebzehn Rettungsanker … eine Sommernacht in Seefelden … Johannes, ich liebe dich!
»Sie wird ertrinken! Los, zieht sie gefälligst wieder hinauf! Oder genügt Euch Euer barbarisches Gottesurteil immer noch nicht als Beweis für Jungfer Gassners Unschuld? Sie ist nicht aufgetaucht, also gebt sie frei! Sofort!«, rief Johannes außer sich. Er stand, immer noch von den Bütteln bewacht, neben Basilius am Ufer.
»Haltet Eure Zunge im Zaum, sonst dürft Ihr eine Weile im Grünen Turm zubringen, und wer weiß, vielleicht schlägt Euch der Henker für Eure unverschämten Äußerungen noch einen Arm ab!«, brüllte ihm der Büttel ins Gesicht und versetzte Johannes einen Stoß, der ihn rückwärtstaumeln ließ.
Das stürmische Rauschen ihres Blutes war gewichen. Luzia vernahm nichts als Stille. Sie fühlte sie in jeder Pore und dann
sah sie das Licht. Zart und leicht durchflutete es ihr Herz, und mit ihm kam der Friede. Sie blickte in das warme Licht, in welches sie der schöne schwarze Engel trug. So nah war sie ihm bislang noch nie gekommen. Jetzt sah sie sogar den feuchten Schimmer seiner nachtschwarzen Augen, sein tröstendes Lächeln. Azraels kühle Finger berührten ganz zart ihre Wange …
»Zieh sie hoch!«, befahl Kramer dem Wachmann, als er den Unmut der Umstehenden nicht länger ignorieren konnte. Um ganz sicherzugehen, dass Luzia nicht doch noch von der Reinheit des Wassers abgestoßen wurde, hatte Kaplan Grumper darauf bestanden, sie sehr viel länger im Weiher zu belassen, als gewöhnlich bei einer Wasserprobe verlangt wurde.
»Aus dem Weg!« Mit diesen Worten stieß Johannes die beiden Büttel zur Seite. »Aus dem Weg! Lasst mich durch!«, schrie er und packte den größeren der beiden Männer am Lederwams.
Auf Kramers Nicken ließ der andere seine Waffe sinken und ließ den Medicus passieren. Von der Wehr rannte über den Steg.
Kaplan Grumper verstand die Welt nicht mehr. Jetzt lag die Gassnerin vor seinen Füßen. Nass und tot! Wie hatten sie sich nur so täuschen können? Rot und lüstern, mit verlockenden Brüsten und einem Arsch, wie ihn nur der Teufel schuf, war sie dennoch keine Hexe gewesen!
Johannes stürzte an ihm und dem Inquisitor vorbei auf Schwarzenberger zu und versetzte ihm einen Tritt, der den Wachmann beinahe ins Wasser befördert hätte.
»Weg da, oder ich mache dich kalt!«, brüllte der Medicus scharf. Mit fliegenden Fingern löste er das wirre Geflecht der Taue und riss Luzia in seine Arme.
Ihre Haut war weiß wie das Wachs der geweihten Kerzen, die Kramer hatte auf dem Steg aufstellen lassen. Zart und verletzlich lag sie in seinen Armen. Alles Blut war aus ihren Lippen gewichen, und ihre Lider wirkten gläsern.
»Luzia, Liebes! Großer Gott, hilf mir!«, schrie er gequält.
Er spürte eine Hand auf seiner Schulter.
»Es sollte Euch trösten, dass die Gassnerin keine Hexe war«, sagte Kramer, dessen Gesicht keine Regung zeigte.
»In der Tat solltet Ihr froh sein, dass die Gassnerin nicht mit dem Teufel verkehrt hat. Immerhin hat sie auch Euch des Öfteren empfangen!«, versicherte ihm Grumper im Gehen.
Johannes ballte seine Hand zur Faust, bis die Knöchel weiß hervortraten.
»Ihr seid
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