Seelenfeuer
Unwetter vor vierzehn Tagen herrschte in der freien Reichsstadt eine gedrückte Stimmung. Doch weil die ganz alltäglichen Geräusche unverändert durch die Gassen dröhnten, war die Veränderung nicht offensichtlich. Noch immer drangen die Hammerschläge aus den geöffneten Türen der vielen Schmieden. Auch die Sägegeräusche der Zimmerleute, das Hämmern und Rufen der Kesselflicker und die wütenden Rufe der Gerber suchten sich ihren Weg in die Ohren der Menschen, und dennoch ging etwas Seltsames in der Stadt vor. Selbst die Luft roch anders. Misstrauen und Kälte schürten die stetig wachsende Angst der Menschen und ließen sie frösteln, was nicht nur daran lag, dass sich die Sonne die meiste Zeit hinter dichten, grauen Wolken verbarg. In sämtlichen Gassen war das Lachen gestorben. Die Menschen hatten es zu Grabe getragen und anschließend vergessen. In den Hinterhöfen war es still geworden. Nicht einmal das fröhliche
Kindergeschrei war zu hören. Das Gerassel der Eisenreifen, welche die Jüngsten mithilfe eines Steckens gewöhnlich durch die Gassen trieben, gab es nicht mehr. Verschwunden war das Geklapper der Steine, die mit Begeisterung von den Kindern durch die Löcher in den Holzwänden der Schuppen geworfen wurden. Ihr munteres Geplapper war ausgelöscht. Selbst wenn sich die Frauen trafen, um an der Schussen gemeinsam ihre Wäsche zu waschen, herrschte eine Stille, die es noch nie zuvor gegeben hatte.
Trostlosigkeit lag über der grauen und erstarrten Stadt und griff nach den Herzen der Menschen, um sie zu quälen.
Niemand wagte mehr der täglichen Messe fernzubleiben. Niemand außer Luzia, nach deren Hilfe zur Zeit der Andacht zweimal in der Unterstadt verlangt worden war. Beide Kinder hatten die Geburt überlebt, was von einem Teil der Bevölkerung als gutes Zeichen gewertet wurde, die anderen hingegen ließen sich von der Stimmung, die der Kaplan täglich ein wenig mehr anheizte, mitreißen.
Ängstlich knieten die Menschen in den überfüllten Bänken der Liebfrauenkirche und duckten sich unter den Beschuldigungen Grumpers. Manchmal richteten sich seine Worte an einen Einzelnen. Ein andermal schoss er seine Blitze wahllos durch die ganze Kirche und übergoss die gesamte Gemeinde mit seinen Drohungen.
Während Kaplan Grumper unentwegt von den Versuchungen durch den Teufel sprach, geriet Nanne Rössler immer häufiger zwischen die Mahlsteine ihres eigenen Gewissens. Der Gottesmann predigte immer wieder über die Gefährdungen
der menschlichen Seele, und in diesem Zusammenhang verdammte er die Anbetung anderer Götter. Aber hatte sie nicht selbst gesehen, wie Luzia immer einen Schluck Wein oder Bier ins Feuer ihres Herdes goss? Weshalb eigentlich? Nanne wusste es nicht. Oder wie sie Holunderholz und Wacholderbeeren in die Glut warf, die daraufhin zu neuem Leben erwachte und lodernde Flammenzungen hervorbrachte? Währenddessen wirkte Luzia immer wie aus einer anderen Welt. Dann leuchteten ihre Augen wie Lapislazuli und ihr Gesicht bekam einen entrückten Ausdruck, der ihr Angst machte.
Als Bademagd erfuhr Nanne immer die neuesten Geschichten. So erzählten sich die Ravensburger, Grete Muntz wolle gesehen haben, wie Luzia kurz vor Beginn des Unwetters und auch schon etliche Male davor ein paar Raben mit Brotkrumen gefüttert habe. Nanne fiel es nicht schwer, den Erzählungen Glauben zu schenken, schließlich war sie selbst schon dabei gewesen, als Luzia das Rabenvolk im Innenhof von Basilius’ Haus gefüttert hatte.
Die Baderstochter erinnerte sich noch gut an die Begebenheit. Während sie alles unternommen hatte, die schwarzen Vögel zu verscheuchen, hatte Luzia die Unglücksboten noch angelockt und mit ihnen gesprochen. Als Nanne ihre Bedenken geäußert hatte, hatte ihr die Freundin die Geschichte der Nordmänner erzählt. Hoch im Norden hatten die Menschen in früheren Zeiten zu einem anderen Gott gebetet. Sein Name war Odin. Odin sendete täglich seine beiden Raben aus, um zu erfahren, was sich in der Welt tat. Den einen rief er Hugin, was Luzia mit »Gedanken« gleichsetzte. Der andere hörte auf den Namen Munin, was wohl Erinnerung bedeutete.
»Selbst die Raben sind Kinder Gottes, und die Menschen fürchten sie nur, weil sie schwarz und klug sind. Aber fürchten wir uns vor allem Schwarzen und vor jedem, der sein Licht leuchten lässt?«
Darauf hatte Nanne keine Antwort gewusst, und so war es häufig, wenn Luzia ihre merkwürdigen Fragen an sie richtete. Allein wenn sie sich
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