Seelenfeuer
rechts und links neben dem Tabernakel unter dem ewigen Licht. Die restliche Bevölkerung kniete in den Bänken der Liebfrauenkirche und lauschte von dort Grumpers warnenden Worten. Dabei wirkten
ihre Gesichter nicht andächtig, sondern versteinert und voller Gram. Wie eine giftige Schwefelwolke schwebte das Misstrauen über den Köpfen der Ravensburger. Grumper predigte, die Unholdin, die dieses Wetter herbeigerufen habe, lebe noch immer unbescholten in ihrer Mitte. Auf diese Missstände wies er täglich hin, und jedes Mal klang seine Stimme eindringlicher und drohender.
»Rettet eure unsterbliche Seele und bringt die in Sicherheit, die in Gefahr sind, vom wahren Glauben abzufallen! Wenn es sein muss, gegen ihren Willen. Merkt euch, die Wettermacherin, die Unholdin, die Teufelsbraut wartet nur auf einen geeigneten Zeitpunkt, um erneut zuzuschlagen. Um euch zu zermalmen, eure Kinder zu verhexen, euer Vieh zu töten und eure Felder zu verwüsten!«
In all seiner Pracht stand Kaplan Grumper auf der goldornamentierten und mit kostbaren Schnitzereien verzierten Kanzel und schmetterte seine Worte in die Menge. Auf der Brüstung der Kanzel leuchteten im Abstand eines Fußes echte Wachskerzen in goldenen Leuchtern. In seinem über und über mit Goldfäden bestickten liturgischen Gewand aus kostbarem Brokat und schimmernder Seide wirkte der Kaplan unantastbar. Drohend erhob er die Arme und fuhr mit donnernder Stimme fort: »Ich sage euch, die Welt ist voller Fallstricke und Täuschungen! Wir alle haben gesehen, wozu eine Bestie, die sich auf einen Pakt mit dem Teufel eingelassen hat, fähig ist! Luzifer, der gefallene Engel, verleiht seinen Mägden Mächte, von denen ihr alle nicht einmal zu träumen wagt, dabei tarnt sich das unsagbar Böse immer mit dem Gesicht des Freundes, des Helfers, des freundlichen Nachbarn … oder der Hebamme!« Das letzte Wort kam wie Donnergrollen aus seinem Mund.
Die Stille in der Liebfrauenkirche wurde plötzlich greifbar. Die Luft fühlte sich an, als würde sie jeden Moment die Lungen verbrennen. Gleichzeitig wuchsen die Zweifel wie scharfkantige Eiskristalle, um sich schließlich wie Raureif über die Ravensburger zu legen. Dabei gelang es weder dem Verstand noch dem Herzen, das kalte Gefühl des Argwohns aufzuhalten. Beinahe alle Besucher der Kirche drehten sich um und richteten ihren Blick auf Luzia. Während sie zur Kanzel hinaufsah, fühlte sie ihre Lippen taub werden, und ein Zittern erfasste ihren Leib. Luzia fror, aber es war die Seelenkälte, die ihr ins Gesicht schlug.
Sie sah in die Augen all jener, denen sie die Stirn gekühlt und das Blut abgewaschen hatte. Die sie davor bewahrt hatte, während vieler qualvoller Stunden den Mut und die Zuversicht aufzugeben. Die vor Glück geweint hatten, als sie ihr gesundes Kind in den Armen hielten. Deren letzte Hoffnung sie allein gewesen war.
Sie alle gafften, als wäre sie Luzifer. Während sich ihr hilfesuchender Blick zur Seite der Männer hinüberstahl, wurde ihr schmerzlich bewusst, was sie über alldem vergessen hatte: Dort gab es heute niemanden, dessen warmer Blick sie gestreichelt hätte, der ihr mit einem einfachen Nicken versichert hätte, dass sie nicht allein war, der sie auffangen und sie, wenn nötig, auf seinen Armen heimbringen würde.
Johannes von der Wehr hatte sich bereits vor drei Tagen zusammen mit Basilius einer kleinen Reisegruppe nach Ulm angeschlossen. Gemeinsam wollten sie dort auf einen Handelszug aus Nürnberg treffen. Unter den Handelsherren befand sich ein ehrbarer Mann, der chirurgische Instrumente und geeichte Apothekerwaagen von höchster Qualität verkaufte.
Eisige Kälte umfasste Luzias Herz und schnürte ihr die Kehle zu.
Was Grumper ihr vorwarf, war ungeheuerlich, und noch ungeheuerlicher war, dass die Menschen begannen, ihm Glauben zu schenken. Mit einem einzigen Blick durchstach Grumper Luzias Herz. Eine Mischung aus wilder Angst und heißem Zorn erfasste ihre Sinne und ließ sie erschaudern.
Kaplan Grumper stand noch immer auf seiner Kanzel und genoss die prickelnde Atmosphäre, die seine Rede heraufbeschworen hatte. Er sah die Angst in den Augen derer, die auf ihn vertrauten. Wie sie schon jetzt wuchs und reiche Früchte trug. In manchen Augenpaaren las er die Erleichterung über die längst erhoffte Bestätigung eines Gerüchts, das nun endlich grausame Tatsache geworden war.
Aber noch immer gab es die Unverbesserlichen. Ettenhofer und einige seiner Gefolgsleute. Ihnen genügte es noch
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