Seelenfeuer
werdende Darmschlinge. Für die Dauer eines Herzschlags berührten sich ihre Hände. Gemeinsam standen sie um den geöffneten Bauch eines lebendigen Mannes und hielten einen Teil seiner warmen, lebenden Organe in ihren Händen. Das Innerste, von Gott Geschaffene. War es tatsächlich eine Sünde, den Menschen von innen zu betrachten, wie die Kirche sagte?, fuhr es Luzia durch den Kopf.
Die Pfeilspitze hatte sich tief in die Darmwand gebohrt und das Gewebe drum herum wies bereits eine ungesunde schwarze Färbung auf.
»Wenn Ihr das Darmstück haltet, werde ich versuchen, die abgebrochene Spitze zu entfernen.«
Luzia nickte. Warm und glitschig fühlte sich der Darm in ihren Händen an, und sie gab sich alle Mühe, dass er ihr nicht entglitt und zurück in die schützende Körperhöhle rutschte. Nachdem Johannes die Pfeilspitze mit zwei weiteren Schnitten entfernt hatte, begann er auch das grauschwarze Gewebe um die Eintrittsstelle zu entfernen. Luzia bewunderte sein Geschick und die Sicherheit, mit der er die scharfen Instrumente führte.
»Wir brauchen Wein, um die Wunde zu säubern.« Wieder trafen sich ihre Augen. Luzia brachte den Weinschlauch und goss kleine Schlucke in die Wunde. Diesmal berührten sich nicht nur ihre Hände, auch ihre Herzen verstanden sich und schlugen im Gleichklang ihrer noch nicht eingestandenen Liebe. Als sie sich für die Dauer eines Atemzugs in die Augen sahen, wusste Luzia, dass er es war, den sie begehrte, den sie schon vom allerersten Augenblick an gewollt hatte. Trotz der ernsten Lage zersprang ihr Herz fast vor Glück. Sein Atem streifte ihre Wange und das Grau seiner klugen Augen umfing sie mit einer Warmherzigkeit, dass Luzia der Atem stockte. Sie wusste, dass er das Gleiche dachte.
»Reicht mir bitte noch einmal den Wein«, sagte der Medicus und sah ihr abermals in die Augen. »Wir müssen den Bauch spülen, sonst ist unser junger Freund tot, bevor es wieder Morgen wird. Sorgfältig begann er das Darmstück mit Wein zu säubern, bis Eiter und Blut verschwunden waren.
Dann fixierte er die Darmschlinge mit einem Stab, den er vorsichtig hinter das Gewebe schob, um ein Zurückgleiten zu verhindern.
»Jetzt zeige ich Euch etwas ganz Wunderbares«, versprach er mit einem kühnen Lächeln. »Wir nähen die Wunde nicht, sondern verschließen sie mithilfe einiger Hirschkäferzangen.« Mit diesen Worten deutete er wieder auf seine Tasche. »In ihrem Inneren befindet sich ein Glas, bitte bringt es mir.«
Die großen, schwarzen Käfer krabbelten übereinander und klopften mit ihren geweihähnlichen Greifzangen gegen die Glaswand. Luzia glaubte zu träumen. Fasziniert hob sie das Gefäß zum Licht und staunte über die Kraft der dunklen Tiere.
Der Medicus reichte ihr eine Pinzette. »Bitte fügt damit die Wundränder zusammen.«
Er öffnete den Deckel des Glases und nahm einen der schwarzbraunen Käfer heraus. Luzia schüttelte verwundert den Kopf. Sie wollte nicht glauben, was sich vor ihren Augen abspielte. Der Medicus hielt den Hirschkäfer an die zusammengefügten Ränder des verletzten Darmes. Als er seine Mundwerkzeuge mit einem lauten Knacken in die Darmwand schlug, entfuhr Luzia ein faszinierter Schrei. Nachdem sich der Käfer festgebissen hatte, drehte der Arzt den Leib des zappelnden Tieres ab. Zurück blieb lediglich der Kopf mit den Greifzangen. Ein weiterer Käfer war erforderlich und schließlich sogar ein dritter. Den Luzia auf seine Anweisung selbst herausnahm und an die Wunde setzte.
»Das macht Ihr ganz hervorragend!«, würdigte er Luzias Geschick.
Ihre Wangen glühten. Sie hatte jedes Zeitgefühl und die Welt um sich vergessen.
Erst Bruder Anselms entsetzter Schrei ließ ihre Gedanken in den großen Saal des Spitals zurückkehren. Der Mönch stand hinter ihr und starrte voller Ekel auf ihre Hände und weiter auf die zappelnden Hirschkäfer.
»Keine Angst, die Käfer schaden dem Jungen nicht. Sie werden sich nach gegebener Zeit von selbst auflösen, aber bis dahin ist die Wunde längst verheilt«, versuchte von der Wehr den entrüsteten Mönch zu beruhigen.
Der Antoniter bedachte ihn nur mit einem fassungslosen Blick und verließ auf der Suche nach dem Weihwasser den Raum. Ein solch grässliches Tun wollte er ohne göttlichen Beistand unter dem Dach des Spitals nicht dulden. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die rothaarige Hebamme dieses Höllentier in den geöffneten Bauch des Mannes gesetzt hatte.
Als die Darmschlinge wieder im Bauchraum verschwand,
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