Seelenfeuer
Schriftrollen, die nur auf einer Seite beschrieben waren und immer mit zwei Händen gehalten werden mußten. Dieses Buch enthielt die Kriegserinnerungen eines gewissen Gaius Vatinius, der das Rheinheer befehligt hatte.
Ulrika las heimlich in ihrem Zimmer, beim trüben Licht einer einzigen Lampe. Sie verschlang die Worte so gierig, wie ein anderes Kind in ihrem Alter vielleicht verbotene Süßigkeiten genascht hätte. Ihr Hunger nach Wissen über das Volk, dem ihr Vater angehört hatte, war unersättlich.
Doch als Ulrika zu Vatinius’ Beschreibungen der ›nördlichen Barbaren‹ kam, die er dem Leser als seelenlose und hirnlose wilde Tiere vorstellte, schleuderte sie das Buch zornig weg und setzte sich in ihrem Bett auf.
Das Buch war genauso wie unzählige andere, die sie gelesen hatte – getränkt von römischem Hochmut und Vorurteil. Dieser Vatinius war nicht besser als Julius Cäsar, der Mann, den Ulrika am meisten haßte. Cäsar hatte als erster die Germanen überfallen und sie zu Sklaven herabgewürdigt. Seine Standbilder waren überall in Alexandria zu sehen; durch seine Ermordung war er zum Gott erhoben worden. Doch Ulrika verachtete diesen Erzfeind ihres Volkes und verfluchte ihn bei jeder Gelegenheit.
Niedergeschlagen stand sie auf und ging zum Fenster. Sie konnte das Meer riechen und seine Feuchtigkeit spüren, wie eine lockende Liebkosung, aber sie konnte es nicht sehen. Diese Kammer war erstickend. In dem gewaltigen Tempel mit seinen hallenden Innenhöfen, den Heiligtümern und den Zellen der Schwestern fühlte sie sich wie in einer Gruft. Sie konnte kaum atmen in der schwülen Sommernacht. Sie wünschte sich Bäume und freien Himmel, sie wollte laufen, springen, frei sein.
Diese Rastlosigkeit hatte sich erst kürzlich eingestellt, etwa zur Zeit ihrer ersten Menses vor ein paar Monaten, als sie zwölf Jahre alt geworden war. Vorher war sie ein stilles, zurückgezogenes kleines Mädchen gewesen, das in seiner eigenen Welt eingeschlossen lebte, zu der nur ihr Vater Zutritt hatte. Aber dann hatte diese Rastlosigkeit sie gepackt, die wie eine Flamme in ihr brannte, bei Tag und bei Nacht, in kalten Frühlingsnächten und bei stürmischen Sommergewittern. Sie brannte darauf, ihre Fesseln zu sprengen.
Selene stieg aus dem Bad, trocknete sich ab, band ihr feuchtes Haar mit einem weißen Tuch und schlüpfte in ein frisches Gewand. Sie zog die beiden Ketten um ihren Hals gerade.
An der einen hing das goldene Horusauge, das Andreas ihr vor siebzehn Jahren in der Grotte von Daphne geschenkt hatte. An der anderen hing Ranis Türkis, Nimrods Geschenk an seine Freundin, als diese vor zehn Jahren Persien verlassen hatte. Selene umfaßte den Stein mit der Hand und fühlte wieder den dunklen Schmerz tief in ihrem Innern.
Ehe sie den kleinen Wohnraum verließ, streute sie Staub in das heilige Feuer der Isis, das Tag und Nacht neben ihrer Tür brannte. Sie vergaß die Göttin nie.
Vor drei Jahren war sie am Rand der Verzweiflung gewesen – obdachlos, hungrig, allein mit einem Kind. Alexandria, die Perle des Mittelmeers, diese herrliche Stadt aus weißem Stein und Alabaster, von der ein Historiker geschrieben hatte, sie wäre ›von so blendendem Glanz, daß man, wolle man nicht blind werden, die Augen beschatten müsse, wenn man mittags durch ihre Straßen ging‹, hatte sie im Stich gelassen. Alexandria hatte sie verraten.
Selene, die in Jerusalem erfolglos versucht hatte, die Bank ausfindig zu machen, der Rani ihr Vermögen anvertraut hatte, war mit wenig Geld in Alexandria angekommen. Und bald hatte sie überhaupt keines mehr gehabt. Die reichen, verwöhnten Bewohner Alexandrias brauchten keine einfache Heilerin; sie hatten gelehrte und vornehme Ärzte genug um sich herum.
Ihre Erkundigungen nach Andreas an der Schule für Medizin waren erfolglos gewesen. Ihre Bemühungen, eine Spur ihrer Eltern zu finden, hatten zu nichts geführt. Aber gerade an dem Tag, als ihre Not am tiefsten gewesen war, hatte sie eine Erleuchtung gehabt. ›Sie stammt von den Göttern‹, hatte ihr Vater gesagt. Und Mera hatte kurz vor ihrem Tod zu ihr gesagt: ›Bewahre dir immer die Freundschaft mit Isis.‹ Da hatte Selene gewußt, was sie zu tun hatte. Sie stand in der Hand der Götter. Ohne die Elfenbeinrose, ohne Andreas konnte sie die Verwirklichung ihres großen Traums nicht weiterverfolgen. Darum mußte sie sich in den Dienst der Götter stellen und darauf vertrauen, daß sie sie weiterführen würden.
Selene fand ihre
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