Seelenfeuer
Tochter am Fenster sitzend unter dem dunklen Nachthimmel. Sie nahm sich einen Moment Zeit, um sie zu betrachten. Ulrika war in den letzten Monaten rasch gewachsen; schon war sie größer als einige der Schwestern im Tempel. Ihr Körper begann sich zu runden, Arme und Beine waren kräftiger geworden. Ihr glattes Haar war heller geworden, das Blau ihrer Augen dunkler. Es war beinahe, dachte Selene, als wolle ihr germanisches Erbe das römische verdrängen. Sie entwächst mir, dachte Selene plötzlich.
Und sie war ein so ernstes Mädchen. Warum lächelte Ulrika nie? Was verbarg sich hinter dem ernsten Blick? War der frühe Ernst durch Ranis Tod gekommen? Oder war Ulrika schon immer so gewesen?
Ich darf sie nicht verlieren, dachte Selene. Sie ist das einzige, was ich habe.
»Rikki«, sagte sie leise.
Ulrika drehte sich um. Ihr Blick war zu reif für ein Mädchen ihres Alters. Sie ist doch noch ein Kind, protestierte Selene stumm. Sie müßte kichern und lachen wie all die anderen Mädchen ihrer Altersstufe. Doch Ulrika hielt sich von den anderen Mädchen fern, sie hatte keine Freundin, und Selene wußte nie, was in ihr vorging.
Ihr Blick wanderte zum Bett, und augenblicklich sprang Ulrika auf. Sie versuchte, ihrer Mutter die Sicht zu versperren, aber es war zu spät. Sie hatte das Buch schon gesehen.
»Was liest du da?« fragte Selene, ging um Ulrika herum und nahm das Buch zur Hand. »Du warst wieder in der Bibliothek, nicht wahr?«
Ulrika nickte.
Selene legte das Buch nieder, ohne einen Blick darauf geworfen zu haben, und setzte sich auf den Bettrand.
»Komm«, sagte sie und zog Ulrika neben sich. »Ist das Buch gut?«
Ulrika zögerte, dann sagte sie: »Nein. Es stehen nur Lügen darin.«
Selene seufzte. Sie wußte schon seit einiger Zeit, daß das, was sie Ulrika über ihren Vater und sein Volk erzählen konnte, nicht mehr ausreichte, um den Wissensdurst des Mädchens zu stillen. Kein Wunder, daß sie sich nun anderen Quellen zuwandte.
Selene wurde plötzlich bewußt, daß sie schon lange nicht mehr über Wulf gesprochen hatten. Sie konnte sich an das letztemal nicht erinnern. Konnte es wirklich in Jerusalem gewesen sein, vor so langer Zeit? War Ranis Tod schuld daran, daß die Gespräche zwischen ihr und Ulrika verstummt waren? Ein Gefühl ängstlicher Beklemmung überkam Selene. Ich sollte jetzt von ihm sprechen, dachte sie. Gerade jetzt braucht Ulrika die Wahrheit dringender denn je.
Aber ihre Angst vor diesem Schritt war zu groß. Darum sagte sie nur leise: »Dein Vater war ein wunderbarer Mensch, Rikki. Ich wollte, du hättest ihn kennenlernen können.«
Einen Moment war es ganz still im kleinen Raum, dann füllten sich Ulrikas Augen mit Tränen. Als Selene es sah, nahm sie ihre Tochter in die Arme. Zum erstenmal seit dem schrecklichen Tag, als sie umschlungen am Ende der Gasse in Jerusalem gestanden und über Ranis Tod geweint hatten, hielten sie sich in den Armen.
»Ach, Rikki«, murmelte Selene. »Es tut mir leid. Es tut mir ja so leid.«
»Mama«, schluchzte Ulrika.
Mehr sprachen sie nicht. Die Mauer war immer noch da. Der Schmerz, der zwischen ihnen stand, war zu groß. Und was würde jetzt die Wahrheit bewirken? fragte sich Selene, während sie ihrer Tochter über das Haar strich. Was würde es bewirken, wenn ich ihr sagte, daß ihr Vater nicht in Persien gestorben ist, daß er nach Germanien aufbrach, ohne zu wissen, daß ich ein Kind erwartete, daß er vielleicht jetzt in seinen heimatlichen Wäldern ist, ohne eine Ahnung von der Tochter, die sich nach ihm sehnt? Ich kann es ihr nicht sagen. Ich kann nicht …
»Begleite mich heute abend auf meiner Runde, Rikki«, sagte Selene und neigte sich ein wenig zurück, um Ulrika das Haar aus dem nassen Gesicht zu streichen. »Hilf mir bei der Arbeit mit den Patienten.«
Ulrika starrte ihre Mutter einen Moment lang an, überrascht beinahe, dann veränderte sich ihr Gesicht, wurde dunkel, verschloß sich in einem Ausdruck verratenen Vertrauens. Sie stand auf und ging wieder zum Fenster.
»Ich – ich möchte nicht, Mutter. Ich bin müde.«
Selene sah ihre Tochter an. Was habe ich falsch gemacht? Der Augenblick tiefer Vertrautheit, gemeinsam empfundenen Schmerzes, so kostbar, war wie weggefegt.
»Gut«, sagte sie, stand auf und ging zur Tür. »Du darfst nicht mehr heimlich zur Bibliothek hinunterlaufen, Ulrika. Am Hafen ist es gefährlich für junge Mädchen. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Mutter.«
»Wir gehen morgen zusammen hin, ja?
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