Seelenfeuer
Tempel gekommen war und sich erboten hatte, sich in den Dienst der Isis zu stellen. Die Göttin selbst hatte sie hierhergeführt. Ihre Ankunft war Teil eines göttlichen Plans; die Beweise waren unübersehbar: Dieser Saal, einst eine Vorratshalle, war nun zum Asyl für Kranke und Leidende geworden, die in weißbezogenen Betten liegend gepflegt wurden und das Licht und die herbe Meeresluft atmeten, die durch die Fenster hereinströmten. Ja, es war ein richtiges Krankenhaus, weit entfernt von den beengten kleinen Kammern, wo Schwestern und Priesterinnen früher die Kranken und Leidenden aufgenommen hatten, die hilfesuchend zu ihnen gekommen waren.
Mutter Mercias Blick ruhte liebevoll auf Schwester Peregrina. Sie sah in ihr die Tochter, die sie nie gehabt hatte. Sie war eine gute Frau, diese weitgereiste Fremde aus dem Osten. Ja, als Fremde war sie gekommen – darum hatte ihr Mutter Mercia den Namen Peregrina gegeben, das lateinische Wort für Fremdling – und eine Fremde war sie bis zu diesem Tag geblieben, sehr ruhig und verschlossen, keinem Einblick in ihre Seele gewährend.
Als Schwester Peregrina mit ihrer kleinen Tochter in den Tempel gekommen war, um in den Dienst der Göttin zu treten, hatte Mutter Mercia, die die Aufrichtigkeit dieses Anerbietens erkannte, Mutter und Kind im Tempel Asyl gewährt. In den ersten Monaten, während sie einander kennenlernten, abends in ruhigem Gespräch beisammensaßen, hatte Mutter Mercia geglaubt, die junge Frau würde sich bald öffnen und auch über Persönliches mit ihr sprechen. Die Vorsteherin des Tempels war eine sanftmütige und teilnahmsvolle Frau, deren freundliche Geduld dazu einlud, ihr das Herz auszuschütten. Sie verstand es, den Menschen ihre Befangenheit zu nehmen, so daß sie es wagten, ihre Seelen zu erleichtern, und danach mit frischem Mut dem Leben ins Gesicht sehen konnten. Doch obwohl Mutter Mercia überzeugt war, daß Schwester Peregrina dunkle Erinnerungen mit sich herumtrug, die ans Licht zu bringen ihr gutgetan hätte, verharrte die junge Frau in ihrer Verschlossenheit.
Mutter Mercia war unbegreiflich, wie sie das nach drei Jahren des gemeinsamen Lebens und Arbeitens immer noch durchhalten konnte; ja, daß sie es offenbar durchzuhalten
wünschte.
Im Grunde genommen wußte sie wenig über Schwester Peregrina. Sie hatte keine Ahnung, wie oder warum sie, völlig mittellos, aus Jerusalem nach Alexandria gekommen war; wie sie zuvor nach Persien verschlagen worden war; welches die Geschichte ihrer Tochter Ulrika war.
»Mutter Mercia«, rief ein junges Mädchen sie, das erst vor kurzem in den Dienst der Isis getreten war. »Du hast Besuch. Er wartet draußen.«
»Danke dir, mein Kind. Ich komme sofort.«
Mutter Mercia warf einen letzten Blick auf Peregrina, die gerade die Schülerinnen zum nächsten Bett führte. Als Peregrina sich umdrehte, überfiel sie blitzartig wieder dieses flüchtige Gefühl der Vertrautheit, das sie niemals richtig zu fassen bekam.
Schon als sie Peregrina vor drei Jahren das erstemal gesehen hatte, hatte dieses Gefühl der Vertrautheit sie durchzuckt. Ich kenne diese Frau, hatte sie gedacht, doch im nächsten Moment schon wußte sie, daß sie ihr unbekannt war. In den folgenden drei Jahren hatte es immer wieder solche Momente gegeben, wo ein bestimmter Gesichtsausdruck Peregrinas, eine Kopfbewegung dieses vage Gefühl ausgelöst hatten, das sie zu necken schien. Was war es nur an Peregrina, das ihr so vertraut erschien? Oder sie vielleicht an jemanden erinnerte, den sie einmal gekannt hatte?
Sie schüttelte jetzt den Kopf, wie sie das auch die anderen Male stets getan hatte. Der Ausdruck war erloschen, die Vertrautheit verloren. Sie drehte sich um und ging zur Tür des Krankensaals, wo ihr Besuch wartete.
»Andreas!« sagte sie überrascht und streckte ihm beide Hände hin. »Wie schön, dich wiederzusehen. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Drei Jahre? Oder vier?«
Lächelnd nahm er ihre Hände. »Wie kommt es, Mutter, daß du jedesmal, wenn ich dich sehe, jünger und schöner geworden bist?«
Sie lachte. »Bist du für länger in Alexandria oder fegst du nur hier vorbei wie der Wüstenwind?«
»Es ist leider nur ein kurzer Aufenthalt. Ich habe nur ein paar Tage, um meine Freunde zu besuchen, dann muß ich weiter nach Britannien.«
»Nach Britannien! Das soll ja ein ganz wildes, barbarisches Land sein, wie ich gehört habe. Du bist wohl in Angelegenheiten des Kaisers unterwegs?«
»Gibt es denn überhaupt andere
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