Seelenfeuer
Anlaß der Ernennung geprägt, die, glaube ich, vor etwa siebzig Jahren stattfand.«
Selene sah Andreas an. »Was hat das zu bedeuten?« fragte sie. »Warum hat mein Vater gesagt, in diesem Ring läge meine Bestimmung? Warum hat er gesagt, ich stamme von den Göttern?«
»Das hat dein Vater gesagt?« flüsterte Mutter Mercia ungläubig.
»In welchem Jahr bist du geboren?« fragte Andreas.
»Vor fast dreiunddreißig Jahren. Wenn du weißt, was das zu bedeuten hat, Andreas, dann sag es mir!«
»Vor dreiunddreißig Jahren«, sagte er vorsichtig, »starb Kaiser Augustus und Tiberius folgte ihm. Aber die Nachfolge ging nicht reibungslos vonstatten. Es gab Leute, die die Wiederherstellung der Republik anstrebten. Es gab andere, die der Auffassung waren, die Alleinherrschaft über Rom sollte nur an einen direkten Nachkommen des Mannes übergehen, der die Diktatur errichtet hatte, also Julius Cäsars. Augustus war schließlich nur Cäsars Großneffe gewesen. Es gab viel Aufruhr und Unruhe, als Augustus starb, und ehe es Tiberius gelang, die Herrschaft an sich zu reißen.«
»Aber was hat das alles mit mir zu tun?«
»Menschen wurden getötet, Selene. Jeden, der ihm den Thron hätte streitig machen können, der legitimen Anspruch auf die Nachfolge hätte erheben können, ließ Tiberius beseitigen.«
Selene schluckte. »Du meinst – auch meinen Vater?«
»Ich verstehe es allerdings nicht«, bekannte Andreas stirnrunzelnd. »Es ist allgemein bekannt, daß Julius Cäsar kinderlos starb.«
Doch Mutter Mercia schüttelte plötzlich den Kopf. »Ich glaube, ich weiß die Antwort. Kommt mit.«
Sie führte Selene und Andreas durch einen düsteren Gang, durch dunkle Torbogen und Gewölbe in einen Teil des Tempels, in dem Selene noch nie gewesen war. Die Wände waren bedeckt mit Darstellungen uralter Götter, Menschengestalten mit Tierköpfen, und mit langen Reihen altägyptische Hieroglyphen. Die Luft war feucht und muffig, Moder hing an den alten Steinen. Diese Mauern waren vor Jahrhunderten, vielleicht sogar vor Jahrtausenden errichtet worden; sie hatten schon gestanden, als Alexander seine neue Stadt gegründet hatte. Dies war das Allerheiligste des Tempels.
In einer Steinkammer, die dunstig war von Weihrauch, fanden sie eine alte Priesterin vor, die die heiligen Feuer in Brand hielt, die rundherum flackerten. Nachdem Mutter Mercia die Alte hinausgeschickt hatte, führte sie Selene vor das Standbild, das alles beherrschend in der Mitte des Raumes stand.
Es paßte nicht hierher, es war zu neu für diese alten Mauern, schien erst in jüngerer Zeit hier aufgestellt worden zu sein. Mutter Mercia wies auf den Sockel, auf dem in griechischer Schrift stand: ›Thea neotera‹.
»Neue Göttin«, murmelte Selene. Sie hob den Blick zum Kopf der Statue und erstarrte.
Das Gesicht, das sie anblickte, hätte fast ihr eigenes sein können.
»Kleopatra«, sagte Mutter Mercia ehrfürchtig. »Die letzte Königin von Ägypten. Fleischgewordene Verkörperung der großen Göttin Isis. Jetzt weiß ich, warum ich immer wieder das Gefühl hatte, dich zu kennen, Peregrina. Siehst du, wie ähnlich du ihr bist? Es heißt, daß sie eine ungewöhnlich helle Haut hatte und dazu Haar so schwarz wie die Nacht. Wie du, Peregrina.«
Selene konnte nicht sprechen. Wie gebannt blickte sie in das weiße Gesicht, stand so still, als wäre auch sie aus Stein gemeißelt.
Mutter Mercia drehte sich nach Andreas um, der hinter ihnen in den Schatten stand.
»Du hast gesagt, Andreas, Julius Cäsar sei kinderlos gestorben. Aber das stimmt nicht. Er hatte einen Sohn, Cäsarion, von Kleopatra, seiner ägyptischen Gattin.«
Andreas’ tiefe Stimme dröhnte in der alten Gruft. »Aber der Knabe wurde getötet. Als Antonius und Kleopatra tot aufgefunden wurden, nachdem sie selber Hand an sich gelegt hatten, befahl Augustus die Hinrichtung ihrer beiden Kinder und Cäsarions.«
Mutter Mercia blickte durch den von Feuerschein erleuchteten Raum zu Andreas, und ihre klugen alten Augen sprachen deutlicher als alle Worte.
»Ich war damals ein kleines Mädchen«, sagte sie, »und ich weiß noch, wie es war, als die Römer kamen. Ich erinnere mich an die Bestattung unserer letzten Königin. Ich erinnere mich, daß ihre Kinder ermordet wurden. Aber es kamen Gerüchte auf, Andreas. Es wurde gemunkelt, anstelle von Cäsarion wäre ein Sklave getötet worden, und eine Gruppe Verschwörer, die Julius Cäsar noch immer in Treue verbunden waren, hätten den Prinzen gerettet
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