Seelenfeuer
leidenschaftlich. »Vor Jahren träumtest du davon, eine große Heilerin zu werden und deine Fähigkeiten dort einzusetzen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Du bist bereit, Selene. Dein Wissen und deine Fähigkeiten sind umfassend. Verteile deine Gaben dort, wo die Not am größten ist.«
»Und wo ist das, Andreas?« fragte sie. »Wohin soll ich gehen?«
»Geh nach Rom.«
»Nach Rom!«
»Die Menschen dort brauchen jemanden wie dich, Selene. Sie brauchen deine Fähigkeiten und deine Weisheit. Hier in Alexandria sind deine Gaben verschwendet. Aber Rom, Selene, Rom braucht dich.«
Rom, dachte sie, die Stadt meiner Vorfahren; die Stadt, die meinen Großvater zum Gott erhoben hat. Warten sie dort auf mich? fragte sie sich. Meine Mutter und mein Bruder. Wurden sie nach Rom zurückgebracht? Sind sie noch am Leben?
»Ich hatte immer das Gefühl, Andreas«, sagte sie leise, »daß meine Berufung zur Heilerin und meine innere Einheit als Person, mein Selbst, miteinander verbunden sind. Ich weiß nur nicht, in welcher Weise. Werde ich die Antwort in Rom finden?«
»Vielleicht.«
»Und kehrst du auch nach Rom zurück, Andreas?« fragte sie. »Wenn du beim Kaiser in Britannien warst, kommst du dann nach Rom zurück?«
»Ich muß dorthin zurückkehren, Selene. Rom ist mein Zuhause. Dort habe ich meine Freunde. Ich werde nach Rom zurückkehren, sobald Claudius es mir gestattet. Wir werden uns wiedersehen …«
50
Selene und Ulrika segelten mit einem der großen Getreideschiffe, die regelmäßig das Mittelmeer von Ägypten nach Rom überquerten. ›Isis‹ stand in großen Lettern am Bug, der sich zu einem goldglänzenden Gänsekopf emporschwang. Die ›Isis‹ hatte tausend Tonnen Getreide geladen und beförderte mehr als sechshundert Passagiere. Gegen nördliche Winde ankämpfend, bewältigte sie die Überfahrt in sieben Wochen.
Die Abreise hatte sich durch verschiedene Umstände mehrmals verzögert. Zunächst hatte Selene, um die Ausreisegenehmigungen für sich und ihre Tochter zu bekommen, die jeder brauchte, der Alexandria verlassen wollte, auf die Rückkehr des Gouverneurs warten müssen, der auf Inspektionsreise am Nil war. Danach hatte es Dispute wegen der Gebühr für die Genehmigung gegeben, die Selene unannehmbar fand: Für Männer kostete die Ausreise zehn Drachmen, für Kinder dreißig und für Frauen einhundert. Selenes Proteste hatten nichts gefruchtet; die Vorschrift war extra erlassen worden, um Frauen vom Reisen abzuhalten. Schließlich hatte Mutter Mercia die Gebühren aus der Tempelkasse bezahlt. Nun ging es darum, ein Schiff zu finden; das hieß, daß man von Schiff zu Schiff laufen, sich nach dem Bestimmungshafen erkundigen und fragen mußte, ob an Bord noch Platz für zwei Passagiere war. Und zu guter Letzt hatten ungünstige Omen die Abreise verzögert.
Die Schiffskapitäne waren alle abergläubische Leute, aber der Kapitän der ›Isis‹ war schlimmer als die meisten. An dem Tag, an dem er in See stechen wollte, opferte er dem Poseidon einen Stier, doch das Opfer wurde nicht gut aufgenommen, also verschob er die Abreise. Beim nächstenmal hockte oben in der Takelage eine krächzende Krähe, und wieder wagte der Kapitän nicht auszulaufen. Dann berichtete der Schiffszimmermann, er hätte von schwarzen Ziegen geträumt, und der folgende Tag, der vier- undzwanzigste August, galt als allgemeiner Unglückstag. Jedesmal waren Selene und Ulrika mit ihren Reisebündeln und in Begleitung von Mutter Mercia zum Hafen hinuntergegangen und hatten darauf gewartet, daß der Herold die bevorstehende Abfahrt des Schiffes ausrufen würde. Jedesmal hatten sie unverrichteter Dinge wieder in den Tempel zurückkehren müssen.
Endlich jedoch kam der Tag, wo die Winde günstig waren und die Omen gut. Selene und Ulrika standen an Deck und winkten, bis die Küste und Alexandria nicht mehr zu sehen waren.
Nachts schliefen sie in Decken gehüllt, ihre Bündel zwischen sich, an Deck hinter einem Vorhang, der die Frauen von den Männern trennte. Bei Tag saßen sie unter dem riesigen Hauptsegel im Schatten. Dort nahmen sie auch ihre Mahlzeiten zu sich, flickten ihre Kleider oder schwatzten mit den anderen Reisenden. Selene hatte wenig Ruhe. Als bekannt geworden war, daß sich eine Heilerin an Bord befand, hatte sie Ingwerwurzel gegen die Seekrankheit zu verteilen und Salbe gegen die unvermeidlichen Zahnfleischbläschen.
Ulrika stand oft beim Steuermann und sah ihm bei der Arbeit zu, oder sie belauschte die Reden
Weitere Kostenlose Bücher