Seelenfeuer
Traum, um den Jungen, der mit dem Bernsteinschiff ausgefahren war und seine Seele verloren hatte.
»Warum bist du nach Alexandria gekommen?« fragte er unvermittelt mit angespannter Stimme.
Selene hob den Blick und sah in die dunklen, zornigen Augen. Um dich zu finden, hätte sie sagen wollen. »Um meine Familie zu suchen«, antwortete sie. »Mir wurde gesagt, daß meine Eltern aus dieser Stadt kamen.«
»Deine Eltern?«
»Mera war nicht meine leibliche Mutter.«
Andreas sah sie verwirrt an, und Selene fiel ein, daß er ja nichts wußte. Erst nach Meras Tod auf der Straße nach Palmyra hatte sie selber von den wahren Umständen ihrer Geburt erfahren.
»Hast du –« begann sie und ihr war plötzlich bang. Hatte er die Elfenbeinrose noch? Oder hatte er sie vielleicht verkauft? Oder verloren? »Die Elfenbeinrose, die ich dir in Daphne gegeben habe – hast du sie noch?«
Sie sah etwas in seinem Blick, zu flüchtig war es, als daß sie es hätte deuten können. Sie konnte nicht ahnen, daß er gehofft hatte, sie würde etwas anderes sagen.
»Ja«, antwortete er dann, ging durchs Zimmer, hob einen schweren Reisesack aus Leder auf den Tisch und öffnete die Riemen. Er griff hinein. Dann drehte er sich um und streckte einen Arm aus. Auf der geöffneten Hand lag die Elfenbeinrose.
Selene sah sie nur stumm an. Eine kleine weiße, vollendet geformte Rose. Jedes Blütenblatt kunstvoll geschnitzt.
Ich bin es, die er da in seiner Hand hält, dachte sie, als sie auf ihn zuging. Aber er weiß es nicht … Hier ist sie endlich, die Antwort auf all meine Fragen nach meiner Herkunft und meiner Bestimmung.
Ihr war beklommen zumute.
Es klopfte, und Mutter Mercia schaute herein. »Darf ich euch jetzt Gesellschaft leisten?« fragte sie.
Dann bemerkte sie, daß Andreas Peregrina etwas darbot und Peregrina zögerte, es zu nehmen. Andreas’ gewitterdunkle Miene überraschte sie. Verwundert blickte sie zu Peregrina und sah die angespannte Haltung, das krampfhafte Bemühen, Kontrolle zu bewahren.
Wie sonderbar, dachte sie, während sie durch das Zimmer schritt. Vorhin, als sie einander gegenübertraten, hätte ich schwören mögen, daß Liebe in ihren Blicken war.
»Was ist das, Peregrina?« fragte sie, zu Selene und Andreas tretend.
»Das hat meine Mutter mir geschenkt, als ich sechzehn wurde. Aber ich habe es Andreas geschenkt.« Selene nahm sehr behutsam die kleine Elfenbeinrose und legte sie auf ihre offene Hand. »Meine Mutter«, sagte sie wie versunken, »die Frau, die mich großgezogen hat, sagte mir, daß der Inhalt der Rose mir Aufklärung darüber bringen wird, wer meine Eltern waren.«
Mutter Mercia sah sie fragend an. »Willst du sie dann nicht öffnen?«
Selene zögerte. Was würde sie finden? Wie furchtbar, wenn sich nach den langen Jahren des Suchens herausstellen sollte, daß auch die Rose die Antwort nicht enthielt. Daß Mera, in ihrer Schlichtheit und ihrem Glauben an das Wunderbare, sich von den Phantasien eines Sterbenden hatte täuschen lassen.
Sie versuchte, die Rose zu öffnen, aber das Siegel aus Keramik ließ sich nicht erbrechen.
»Warte«, sagte Andreas. »Laß mich versuchen.«
Mit kräftiger Hand zerbrach er die Versiegelung und schüttete ihr den Inhalt der Rose auf die geöffnete Hand: das Fetzchen Leinen von dem Laken, das ihren Bruder nach seiner Geburt aufgenommen hatte; eine Haarlocke; ein goldener Ring. Mutter Mercia bekreuzigte sich ehrfürchtig.
Der Ring vor allem zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Nachdem Selene die anderen Dinge auf den Tisch gelegt hatte, hielt sie den Ring ans Licht. »Er hat eine Inschrift«, sagte sie, »aber ich kann sie nicht lesen. Es sind lateinische Buchstaben.«
Mutter Mercia sah sich das Schmuckstück an; eine goldene Münze, die in einen Ring gefaßt war. Eingeprägt in die Münze war ein Männerkopf im Profil. Um den Rand lief eine Inschrift, die auch sie nicht entziffern konnte.
Andreas nahm den Ring und hielt ihn hoch. Seine Brauen schossen in die Höhe. Rund um den Kopf standen die Worte: ›Caesar perpetuo dict‹.
»Was heißt das?« fragte Selene.
»Es ist eine alte Münze«, erklärte Andreas. »Sie wurde vor vielen Jahren geprägt, als Julius Cäsar sich zum Diktator auf Lebenszeit erklärte. Er war der erste Römer, dessen Bild auf eine Münze geprägt wurde.«
»Und das ist er?« fragte Selene und nahm den Ring wieder an sich. »Das ist Julius Cäsar?«
»Ja. Und die Inschrift besagt: Cäsar, Diktator auf ewig. Die Münze wurde aus
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