Seelenfeuer
Paulina drückte beide Hände auf ihren Bauch.
»Aber dort gedeiht doch keines mehr.«
»Dann will ich gar keins.« Damit machte sie kehrt und lief zur Tür.
»Paulina! So hör doch!« Selene rannte ihr nach. »Hör doch! Du kannst ihn selber stillen. Du kannst ihn an deine Brust legen und ihm das Leben geben. Ist das nicht fast das gleiche, als wenn du ihn selbst gebärst?«
Paulina griff nach dem Türriegel. »Jetzt weiß ich, daß du wirklich verrückt bist.«
»Paulina, hör mir doch zu! Ich möchte dir doch nur erzählen, was ich selbst gesehen habe. Im Orient. Frauen, die niemals schwanger gewesen sind, stillen dort neugeborene Kinder. Es ist möglich, Paulina.«
»Willst du mich zum Narren halten?«
Selene faßte Paulina am Arm. Das Kind, das in der Armbeuge von Selenes Arm lag, schlief zwischen den beiden Frauen. »Es ist wahr. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Wenn ein Säugling an der Brust saugt, dann kommt nach einer Weile auch Milch. Ich habe es gesehen, Paulina.«
Paulina zögerte einen Moment. In ihren Augen war ein Flackern. Dann riß sie sich los und eilte davon.
Die Hände in die Hüften gestemmt, stand Ulrika da und betrachtete das Kind und fragte sich dabei, was die ganze Aufregung sollte. Ihre Mutter hatte gesagt, der Kleine wäre schön. Ulrika fand, er sähe ziemlich komisch aus. Außerdem konnte man überhaupt nichts mit ihm anfangen.
Seufzend wandte sie sich vom Bett ab. Die Aprilnacht war von köstlichen Düften durchwoben; es schien Ulrika, als gediehen in Paulinas Garten alle Blumen der Welt. Sie ging auf den Balkon und sah zum dunklen Obstgarten hinaus. Die Luft war mild und verheißungsvoll.
Im vergangenen Dezember, nach Maximus’ Herzanfall, hatte Paulina den griechischen Sklaven, der ihr als Hausarzt gedient hatte, verkauft und Selene gebeten, die Aufgaben des Arztes zu übernehmen. Darum war Selene jetzt im Sklavenhaus und kümmerte sich um eine am Fieber Erkrankte, und Ulrika mußte das Kind hüten. Es machte ihr eigentlich nichts aus, er war ja so klein und hilflos. Aber langweilig war es doch. Der Kleine schlief immer nur, und sie selbst war so rastlos.
»Dein neues Brüderchen«, hatte ihre Mutter gesagt.
Ulrika wußte nicht recht, was sie davon halten sollte. Ihre Mutter schien traurig darüber. Aber warum hatte sie den Kleinen dann nach Hause gebracht? Und er hatte noch nicht einmal einen Namen.
Ein Geräusch im Obstgarten riß Ulrika aus ihren Gedanken. Es war ein vertrautes Geräusch, ein leises Pfeifen. Es bedeutete, daß Eiric mit seiner Arbeit fertig war und auf sie wartete. Ulrikas Herz schlug schneller.
Sie blickte zum Bett zurück. Der Kleine schlief fest.
Sie wandte sich wieder dem Garten zu, sah einen winkenden Arm. Einen Moment war sie unschlüssig, dann winkte sie zurück und lief zur Treppe. Der Kleine würde noch Stunden schlafen. Kein Mensch würde merken, daß sie weg gewesen war.
»Tut endlich etwas!« befahl Paulina, die sonst selten Zorn zeigte, aufgebracht. »Sucht jemanden, der ihn zur Ruhe bringen kann.«
Das Kind schrie seit fast einer Stunde. Sein dünnes Weinen war durch das ganze Haus zu hören, und bis jetzt war es keiner der Sklavinnen, die Paulina hinaufgeschickt hatte, gelungen, ihn zu beruhigen.
Zornig lief sie in ihrem Zimmer auf und ab. Das war eine von Selenes Listen, dessen war sie sicher. Damit wollte sie sie dazu bringen, das Kind anzunehmen. Aber sie würde nicht darauf hereinfallen; sie nicht.
»Wo ist sie?« fragte Paulina, als die Sklavin zurückkam.
»Im Sklavenhaus. Sie ist bei einer Fieberkranken. Sie sagt, sie kann jetzt nicht weg. Sie sagte, ihre Tochter wäre bei dem Kind. Und es wäre gezuckerte Milch für das Kind da.«
»Und ist Ulrika bei dem Kleinen?«
Die Sklavin schüttelte furchtsam den Kopf. Sie hatte ihre Herrin nie so zornig gesehen.
Paulina legte ihre Palla um und eilte wütend aus ihrem Zimmer.
In Selenes Zimmer waren vier Frauen verzweifelt bemüht, das schreiende Kind zu beruhigen. Sie reichten den Kleinen von Arm zu Arm, wiegten ihn, sangen, schwenkten alle möglichen Gegenstände vor seinen Augen hin und her.
»Geht!« befahl Paulina kurz.
Sie legten das Kind hastig wieder in die Kissen aufs Bett und liefen erleichtert aus dem Zimmer.
Paulina drückte die Hände auf die Ohren. Sein Weinen war unerträglich, ein schriller, verzweifelter Ruf um Zuwendung. Valeria hatte anfangs auch so geschrien …
Mit steifen Bewegungen ging Paulina zum Bett und sah zu dem Kleinen hinunter.
Weitere Kostenlose Bücher