Seelenfeuer
Beginn des Spektakels, den Festzug der Götter, warteten. Selene und Paulina waren von Sklavinnen begleitet, die sie aus dem Korb mit kalten Speisen, den sie mitgebracht hatten, bedienten. Selene war froh, daß sie gekommen war. Der Sommer mit seiner mörderischen Hitze und den Fiebererkrankungen, die er mit sich gebracht hatte, war für die Insel besonders schlimm gewesen. Die Zahl der Toten war erschreckend, und noch mehr Sklaven als sonst waren zum Tempel gebracht und dort ausgesetzt worden. Paulinas Geldspenden waren kaum eine Hilfe gewesen. Es war einfach niemand bereit, auf die Insel zu kommen. Und Selenes Bemühungen, eine Audienz beim Kaiser zu erwirken, waren weiterhin vergeblich geblieben. Sie war soweit, sich zu fragen, ob Herodas nicht recht hatte. Vielleicht hatte Äskulap sein heiliges Haus doch verlassen.
Es hatte Selene überrascht, daß Paulina die Einladung zum Flußfest angenommen hatte. In den letzten sechs Monaten war ihr Leben so von der Sorge um den kleinen Valerius erfüllt gewesen, daß sie für gesellschaftliche Vergnügungen keinen Sinn gezeigt hatte. Aber dann hatte Paulina ihr den Grund für ihre Annahme der Einladung genannt: Es könne sein, daß Andreas auch käme, hatte sie gesagt.
Vor sechs Monaten, nachdem Paulina den kleinen Valerius endlich angenommen hatte, hatte sie Selene ein Geständnis gemacht: »Ich wollte mich nicht wieder verheiraten, weil ich es nicht recht fand, einem Mann das Recht auf einen Erben zu nehmen. Aber jetzt habe ich ein Kind, einen Sohn, den ich meinem Mann schenken kann. Jetzt möchte ich heiraten, Selene. Und ich will dir ein Geheimnis verraten: Ich habe Andreas schon lange sehr gern.«
Andreas und Paulinas Mann Valerius waren jahrelang gute Freunde gewesen; seit dem Tag, als Andreas nach Rom gekommen war und seine Arbeit als einer von mehreren Leibärzten Caligulas aufgenommen hatte. Paulina hatte manchen Abend mit den beiden Männern verbracht, sie war mit ihnen ans Meer gefahren, hatte mit ihnen gemeinsam Feste und andere Veranstaltungen besucht. Andreas und Paulina mochten sich und paßten gut zusammen. Er war nie verheiratet gewesen, doch jetzt, hoffte Paulina, wo er achtundvierzig Jahre alt war und keinen Erben hatte, wünschte er sich gewiß eine Familie.
»Ich habe, wie das Gesetz es befiehlt, ein Trauerjahr verstreichen lassen«, hatte Paulina gesagt. »Jetzt kann ich mich wieder verheiraten. Und ich wüßte keinen besseren Mann als Andreas.«
Verständlich, dachte Selene, während sie das Treiben auf der kaiserlichen Tribüne beobachtete. Die Familie war da, aber einige Sitze waren noch leer. Andreas’ Schiff hätte irgendwann in den letzten Tagen in Ostia eintreffen müssen. Würde er heute hier sein?
Der kleine Valerius wurde unruhig und begann zu weinen. Paulina öffnete ihr Kleid und legte den Kleinen unter dem züchtigen Schutz ihrer Palla an die Brust.
Wie bei den Frauen, die Selene im Orient gesehen hatte, war bei Paulina, nachdem sie den Säugling einige Tage lang mehrmals am Tag an die Brust gelegt hatte, die Milch eingeschossen. Paulina war dem Kind jetzt so innig verbunden, als hätte sie es aus ihrem eigenen Leib geboren. Ihre Milch war dünn und reichte nicht aus, doch durch das tägliche Stillen wurde die Bindung zwischen Mutter und Kind ständig gefestigt. Die zusätzlichen Mahlzeiten, die Valerius erhielt, dienten seiner Ernährung; was ihm Paulina gab, wenn sie ihn stillte, war Liebe und Zuwendung.
Paulina und Selene hatten sich eine Geschichte ausgedacht, um das plötzliche Erscheinen des Kindes zu erklären: Der kleine Valerius sei der Sohn entfernter Verwandter aus altem und vornehmem Geschlecht, die an einer Seuche gestorben seien. Paulina hatte eine Menge Geld für falsche Papiere bezahlt; aber jetzt war der Junge amtlich registriert und trug den alten, stolzen Namen der Valerianer.
Selene hob das Gesicht in den leichten Wind, der ihr die schweren Düfte der adligen Damen rund um sie herum zutrug. Paulina hatte sie bei ihrer Ankunft mit ihnen bekanntgemacht: Cornelia Scipionis, eine Nachfahrin des großen Scipio Africanus, und Marcia Tullia, Urenkelin Ciceros.
»Selene«, hatte Cornelia verwundert gesagt. »Was für ein ungewöhnlicher Name. Aus welcher Familie stammst du?«
»Selene ist eine
therapeuta«
, hatte Paulina hastig eingeworfen. »Sie wurde in Alexandria ausgebildet. Du hast sicher von Maximus’ Herzanfall im vergangenen Dezember gehört?«
»Aber ja!«
»Selene war es, die ihm das Leben rettete.
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