Seelenfeuer
Paulina drückte ihr fest die Hand. Wenn Messalina davon erfahren sollte …
»Sie steht auf Todes Schwelle«, sagte der Bruder leise.
Selene wußte, daß es nicht notwendig war, die Instrumente im Feuer zu reinigen; das Mädchen würde tot sein, wenn sie den Eingriff vornahm, und nichts mehr zu fürchten haben. Doch es erschien ihr nicht recht, ihren Körper mit unsauberen Instrumenten zu berühren, darum bereitete sie alles so vor wie bei jeder anderen Operation.
Aus dem Allerheiligsten des Tempels hatte man die heiligen Flammen der Panakea und der Hygieia gebracht, und auch das Standbild des Apollo hatte man hereingetragen. An Türen und Fenstern hatte man heilige Kräuter aufgehängt, an die Wände waren die Zeichen der Isis und der Minerva gemalt. Alle ihnen bekannten Mächte riefen die Brüder an, Selene bei ihrer schweren Aufgabe beizustehen.
Sie glaubten an sie, die Priester und Brüder Äskulaps. Entgegen Herodas’ Voraussage hatte Selene sie nicht im Stich gelassen. Sie hatte nicht entmutigt aufgegeben; im Gegenteil, sie arbeitete härter denn je. Aber ihre unermüdliche Energie allein reichte nicht.
Selene war mit einem großen Plan in den Tempel gekommen. Sie wollte den Tempelbezirk in verschiedene Zonen aufteilen, je nach Krankheit, wie sie das in dem römischen
valetudinarium
gesehen hatte. Statt der Matten wollte sie Betten aufstellen wie in Persien, und sie wollte nach indischer Art besondere Krankenpfleger und -pflegerinnen ausbilden. Sie versuchte, fließendes Wasser einzusetzen, um Abfälle und Exkremente wegzuspülen; sie versuchte, immer frisches Verbandzeug auf Vorrat zu haben und alle Instrumente in heiligen Feuern zu reinigen. Aber im Schmutz des Tempelgeländes lagen mehr als hundert Kranke und Sterbende; das Brummen der Fliegen erfüllte die Luft; der Geruch von der Insel war so ekelhaft, daß er die Leute fernhielt, die sonst vielleicht zu Hilfe gekommen wären; es gab keinen Platz mehr, die Toten zu begraben, keine Möglichkeit, die Kinder von den sterbenden Alten zu trennen, denen, die Ruhe brauchten, Ruhe zu geben. Unter diesen Umständen konnte eine Frau allein, auch wenn sie noch so großartige Pläne hatte, nur wenig ausrichten.
Doch jetzt wurde Selene gebraucht. Das junge Mädchen hatte sich in der Hoffnung auf die Insel geschleppt, daß der Gott ihr helfen würde, und nun wollte Selene wenigstens dem Kind eine Überlebenschance geben.
Selene und der Bruder saßen zu beiden Seiten des still daliegenden Mädchens, die Augen unverwandt auf ihre sich langsam hebende und senkende Brust gerichtet. Im Augenblick des Todes würde Selene zum Messer greifen. Aber nicht vorher, sonst würde sie in lebendiges Fleisch schneiden; und ja nicht zu spät, sonst würde das Kind im Mutterleib sterben …
Genau in dem Moment, in dem der letzte Atemzug den Körper des Mädchens floh …
Der Bruder legte eine Hand auf die warme Brust und fühlte keinen Pulsschlag. »Es ist zu Ende«, flüsterte er.
Selene nahm das Messer, rief alle Götter und Göttinnen, die sie kannte, um Hilfe an und begann.
57
Selene wußte, daß sie sich sehr weit vorwagte. Sie kannte Paulina noch nicht gut genug, um vorhersagen zu können, wie sie reagieren würde; und ihre Freundschaft hatte sich auch noch nicht so weit entwickelt, daß Selene sich Freiheiten wie die, welche sie an diesem Abend wagen wollte, hätte herausnehmen können. Aber sie hatte keine Wahl. Sie konnte das Neugeborene nicht dem Tod überlassen.
Im vergangenen Dezember, nachdem Maximus erholt die Villa verlassen hatte, war Selene auf Paulinas hartnäckigen Wunsch in die Ehrengästezimmer des Hauses gezogen. Sie befanden sich im rückwärtigen Teil, weg von der Straße, mit Blick auf den Obstgarten, der sich den Hang hinaufzog.
Das kleine Bündel fest an ihre Brust gedrückt, eilte Selene durch das Atrium. Im Speisezimmer saß Paulina mit Gästen beim Essen; danach sollte ein Philosoph aus seinem neuesten Werk vorlesen. Sobald die Gäste gegangen waren, wollte Selene Paulina in ihr Zimmer holen.
Große Mutter, betete Selene, während sie unbemerkt durch den Innenhof zur Treppe hastete, die zu ihren Räumen hinaufführte, erweiche Paulinas Herz beim Anblick dieses hilflosen kleinen Kindes. Bring die Mutterliebe, die in ihm verschlossen ist, zum Fließen.
Das war es, was Selene sich erhoffte: daß Paulinas Mutterinstinkt, den sie fünf Jahre lang unterdrückt hatte, beim Anblick des winzigen Kindes hervorbrechen würde.
Wenn
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