Seelenfeuer
Die winzigen Hände zu Fäusten geballt, strampelte er nach Leibeskräften. Das Gesicht war hochrot. Paulina zitterte. Sie wußte, sie brauchte nur den ersten Schritt zu tun, dann würde alles andere von selbst kommen.
Sie sah sich um. Der Saugbehälter lag auf dem Tisch, mit einem von Selene selbst gefertigten Sauger aus grob gewobenem Leinen. Er war verklebt und in sich zusammengefallen; die Sklavinnen hatten offensichtlich erfolglos versucht, das Kind zu füttern.
»Unfähige Dinger«, murmelte sie und ergriff das Fläschchen. Dann dachte sie: Er braucht etwas Festeres, etwas, woran er richtig saugen kann.
Das Schreien tat ihr in den Ohren weh. Sie ging wieder zum Bett und blickte mit einer Mischung aus Mitleid und Ärger auf das kleine Bündel hinunter. Selene hätte ihn sterben lassen sollen. Das hätte jeder andere getan. Den Kaiserschnitt durchzuführen, war Narrheit gewesen. Paulina schüttelte den Kopf. Manchmal konnte Selene wirklich sehr unüberlegt handeln.
»So, so, ist ja gut«, hörte sie sich sagen, und ihre Arme streckten sich beinahe gegen ihren Willen nach dem Kleinen aus.
Diesmal sah sie sich das Kind wirklich an. Sie war überrascht. Es war so klein. Sie hatte vergessen, wie klein Neugeborene waren.
»Ist ja gut«, sagte sie wieder und drückte den Kleinen an sich. Er hörte auf zu weinen.
»Na also«, murmelte Paulina, während sie im Zimmer hin und her ging. Sie spürte die Wärme des kleinen Körpers durch die Decken, sah das kleine, runde Gesicht, die Augen, die noch nicht richtig sahen.
Es erinnerte sie …
Erinnerungen und Gefühle, die sie längst vergessen geglaubt, kehrten zurück.
»Sie hätten dich nicht allein lassen sollen«, murmelte sie. »Was dachte sich Selene nur, dich dieser unzuverlässigen Ulrika anzuvertrauen?«
Sie nahm die Saugflasche und setzte sich auf einen Stuhl. Aber der Sauger war, wie sie vermutet hatte, unbrauchbar. Sie zog ihn von der Flasche, tauchte ihren kleinen Finger in die gezuckerte Milch und führte die Fingerspitze an den Mund des Kindes. Es begann sogleich zu saugen.
Sie tat es noch einmal und noch einmal. »Wir müssen uns etwas Besseres einfallen lassen«, sagte sie, während sie ihn in ihren Armen wiegte. Aber wenigstens hatte er sich jetzt beruhigt.
»Ich werde Selene sagen, sie soll eine Amme anstellen«, sagte Paulina vor sich hin, während sie das Kind wiegte, und ihr kleiner Finger von der Flasche zum Mund wanderte. Sie lehnte sich zurück. Ein vertrautes Wohlgefühl breitete sich in ihr aus, eine süße Trägheit, die sie nur selten in ihrem Leben gekannt hatte. Sie summte ein altes Lied, das Valeria geliebt hatte.
Der Kleine warf den Kopf zur Seite und begann wieder zu weinen.
»Ist ja gut, ist ja gut«, sagte Paulina leise. Sie öffnete die Schulterspange ihres Gewandes und zog den Stoff herunter. Der kleine Kopf drehte sich instinktiv, das Kind suchte und begann zu saugen.
Sobald Paulina die Lippen des Kindes auf ihrer Haut spürte, fühlte sie wieder den scharfen Schmerz in ihrer Brust. Sie fühlte, wie er sich zu lösen begann.
»Du sollst Valerius heißen«, sagte sie. »Und du wirst ein schöner kleiner Junge werden …«
58
Die Herrschaft über das Römische Reich beruhte auf einem merkwürdigen Paradox: Obwohl der Kaiser die unumschränkte Macht hatte und niemandem Rechenschaft schuldig war, brauchte er die Zustimmung des Volkes, um herrschen zu können. Die Römer interessierten sich wenig für die Palastintrigen und die dauernden Machtkämpfe; sollten die Familien der Julier und Claudier ruhig die Welt beherrschen, Hauptsache, sie lieferten weiterhin Brot und Spiele.
Und um das Volk bei Laune zu halten, sollte an diesem Nachmittag ein großes Flußfest zu Ehren des Gottes Tiber stattfinden, der Rom Wasser und Leben spendete. Es sollte das großartigste und aufwendigste Spektakel werden, das Claudius in den sieben Jahren seiner Herrschaft geboten hatte, und die gesamte Stadtbevölkerung war unterwegs, sich daran zu ergötzen.
Die Flußufer hinauf und hinunter drängten sich die Schaulustigen in dichten Reihen. Tribünen für die Würdenträger der Stadt und die Favoriten der kaiserlichen Familie waren aufgebaut worden; die Bürger jedoch mit den glänzendsten Namen – die Metelli, Lepedi, Antonii – hatten ihre Plätze gleich neben der kaiserlichen Tribüne am Flußrand.
Hier saßen Selene und Paulina, so erwartungsvoll wie die Tausende, die, soweit das Auge reichte, am Fluß standen und ungeduldig auf den
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