Seelenfeuer
sie in sich spürte, fand keine Nahrung. Sie arbeitete gern auf der Insel, teilte das Interesse ihrer Mutter an der Medizin und an den kranken Menschen, aber sie fühlte sich in Rom so gefesselt wie einst in Alexandria. Aber was wollte sie? Wollte sie vielleicht in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und mit einem Medizinkasten über der Schulter durch die Welt wandern?
Vielleicht wird es mir eines Tages offenbart, dachte Ulrika, während sie Valerius gut zuredete, sein Mittagsmahl aufzuessen. Wie es meiner Mutter offenbart wurde. Vielleicht schon bald …
Ulrika sah zum Fenster des Kinderzimmers hinaus. Dahinter war die Obstplantage zu sehen, die sich am Hang hinter der Villa hinaufzog. Die Aprilsonne lag hell auf den Bäumen, und Ulrikas Herz begann plötzlich zu jagen.
Sie dachte an Eiric, an die frühen Tage, als sie noch mit ihrer Mutter im Haus Paulinas gelebt hatte und sich abends in den Obstgarten hinausgestohlen hatte, um Eiric Sprachunterricht zu erteilen und sich von ihm seine Muttersprache lehren zu lassen. Wie scheu und unsicher sie damals gewesen waren! Unter Zitronen- und Orangenbäumen sitzend, hatten sie die Wörter ihrer Sprachen getauscht; Ulrika hatte mit einem Stock Buchstaben in die Erde geritzt und Eiric gelehrt, seine eigene Sprache zu lesen. Die Unsicherheit war mit der Zeit einer behaglichen Vertrautheit gewichen; wenn die Lernerei ihnen langweilig wurde, spielten sie miteinander. Eiric neckte Ulrika und zog sie an ihren Zöpfen; Ulrika spottete über seine Stimme, die noch nicht die richtige Tonlage gefunden hatte, und über den Flaum, der auf seiner Oberlippe sprießte. Sie rannten durch den Garten und bewarfen sich mit faulenden Früchten. Das waren glückliche, unkomplizierte Zeiten gewesen.
Aber eines Tages hatte sich alles geändert. Ulrika war fünfzehn, Eiric siebzehn. Sie waren im Obstgarten und spielten fangen. Ulrika stiebitzte Eiric eine Sandale, und er jagte sie durch die Bäume. Als er sie einholte, balgten sie sich lachend. Plötzlich stolperte Ulrika und stürzte zu Boden. Einen Moment lang rangen sie weiter, dann neigte sich Eiric plötzlich über sie und küßte sie mitten auf den Mund. Mit einem Ruck stieß Ulrika ihn weg. Er hätte abscheuliche Manieren, rief sie entrüstet und nannte ihn einen Barbaren.
Eiric war tödlich beleidigt gewesen und hatte kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Und wenn sie versuchte, ihn aus der Reserve zu locken, sagte er nur, sie wäre wie ein kleines Kind und solle ihn gefälligst in Ruhe lassen.
Ulrika war wochenlang tiefunglücklich gewesen. Sie verstand ihre eigenen Gefühle nicht, konnte sich nicht erklären, warum sie so heftig reagiert und so grausame Worte gesprochen hatte. Immer wenn sie in Paulinas Haus kam, hielt sie nach Eiric Ausschau, doch er mied sie, und die alte Vertrautheit ließ sich nicht wiederherstellen.
Und schließlich war da noch dieser Zwischenfall an ihrem siebzehnten Geburtstag.
»Rikki!« Valerius zupfte an ihrem Gewand. Er hatte seine Eier und sein Brot aufgegessen.
Sie sah ihm lächelnd in das ernsthafte kleine Gesicht. »Versprich mir, daß du ein braver Junge bist, Brüderchen«, sagte sie. »Mach jetzt deinen Mittagsschlaf, und später bringe ich dir eine Überraschung.«
Auf dem Weg nach unten sagte sich Ulrika, daß ihre innere Rastlosigkeit eine Folge ihrer Kinderjahre sein mußte. Auf den endlosen Reisen, wo sie niemals ein festes Zuhause gehabt hatte, mußte der Keim dazu gelegt worden sein.
Durch das offene Tor zur Straße sah Ulrika drei Pferde und sie sah Eiric, licht und hell im Glanz der Sonne, der die Pferde führte.
An Ulrikas siebzehntem Geburtstag hatte Paulina in ihrem Haus ein Fest für sie gegeben. Viele Gäste waren gekommen, Gaukler und Schauspieler hatten die Gesellschaft unterhalten, Ulrika war mit den schönsten Geschenken bedacht worden. Doch sie hatte den ganzen Tag nur nach Eiric geschaut und bis zuletzt gehofft, daß er kommen und ihr Glück wünschen würde. Aber er kam nicht. Er ist eben immer noch beleidigt, sagte sich Ulrika. Typisch. Und sie redete sich ein, daß es gut war, daß er nicht gekommen war; er hätte sie mit seinen ungehobelten Manieren nur vor den anderen in Verlegenheit gebracht.
In derselben Nacht hatten Lärm und Getöse im Garten das ganze Haus geweckt. Lucas, der Sklavenaufseher, schleppte Eiric herein. Auf seinem Rücken waren frische Peitschenstriemen, sein Gesicht war voller Schrammen und blauer Flecken, seine Hände waren gefesselt. Der Junge,
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