Seelenfeuer
bestand; sie zeigte sich ihr in diesem Bau, dem Domus Julia. Nur als Enkelin Julius Cäsars hatte es Selene gelingen können, eine solche Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Dies war es, was sie in ihren Fieberträumen auf dem Euphrat gesehen hatte – weiße Alabastermauern, die in der Sonne leuchten. Und zugleich war es die Verwirklichung des Traums, dem sie und Andreas sich damals in der Grotte verschrieben hatten: gemeinsam für ein Ziel zu arbeiten.
Als Selene sich vom Fenster abwenden wollte, sah sie Pindar kommen. Er rannte offensichtlich erregt den Pfad herauf.
Pindar gehörte zur Insel wie die Bäume und die Blumen, die jetzt auf ihr wuchsen. Er lebte hier und versorgte die Gärten, seine Anwesenheit war allen Selbstverständlichkeit geworden, und auch Selene, der er wie ein Schatten folgte, hatte sich längst an ihn gewöhnt.
Keiner wußte genau, wann er zum erstenmal auf die Insel gekommen war. Eines Tages war er da gewesen und hatte die Gartenwege gefegt, hatte die Brunnen gesäubert und die Hecken gestutzt. Als Selene sich schließlich bei den anderen erkundigt hatte, wer er sei, stellte sich heraus, daß niemand das wußte.
Pindar war ein Mann in den Dreißigern, aber er wirkte wie ein Halbwüchsiger, schlaksig, ungelenk, immer ein wenig scheu. Seine Tunika, die ihm lose um die langen Glieder schlotterte, saß immer schief, die Sandalen waren stets falsch geschnürt, das Haar hing ihm meist wirr wie ein Knabenschopf in die Stirn. Auch sein Gesicht war ungewöhnlich; es hatte die Züge eines Erwachsenen, doch es war völlig faltenlos, offen wie das eines Kindes. Und sein Lächeln war von einer gewinnenden Zärtlichkeit.
Er war völlig anspruchslos, sprach wenig, verlangte nie etwas, begnügte sich damit anzupacken, wo gerade Hilfe gebraucht wurde. Darum duldete man ihn gern.
Eines Tages war ein Mann erschienen, ihn zu holen. Er hieß Rufus und er war der Vater des Mannes.
»Er meint’s nicht böse«, erklärte Rufus Selene, als Pindar sich seinen Bemühungen, ihn von der Insel wegzubringen, widersetzte. »Der Junge ist nun mal so. Wenn er sich einmal was in den Kopf gesetzt hat, läßt er sich einfach nicht umstimmen. Ich weiß nicht, was er sich jetzt wieder denkt. Ich hab ihn bestimmt schon hundertmal von der Insel geholt, und immer läuft er wieder her.«
Rufus war ein großer, bulliger Mann von fast sechzig Jahren mit grauem Bart und dem von Narben gezeichneten Gesicht des alten Kriegers. Seine Tunika war aus grobem, selbstgewebtem Tuch, und er roch nach Zwiebeln. Arme Leute, dieser Vater und sein Sohn, dachte Selene, der eine ungebildet, der andere einfältig.
»Er kann bleiben«, sagte Selene. »Er ist uns eine Hilfe.«
»Er möchte gern hier übernachten, wenn du’s ihm erlaubst, Julia Selena«, sagte Rufus offensichtlich erleichtert. »Ich arbeite den ganzen Tag, und Pindar braucht jemanden, der auf ihn aufpaßt. Die Leute haben ihn immer schlecht behandelt, nur weil er ein bißchen unbedarft ist.«
»Hier wird keiner grausam zu ihm sein, dafür sorge ich.«
Der einfältige Pindar war also geblieben. Immer konnte man ihn in Selenes Nähe sehen, wo er irgendeine Arbeit machte und jeden, der vorüberkam, anlächelte.
Als er jetzt den Pfad heraufgelaufen kam, sah Selene, daß der Hund ihn begleitete. Die Rettung des Hundes hatte Selene tiefen Einblick in Pindars Wesen gegeben.
Es waren viele Hunde auf der Insel. Sie liefen frei herum, dienten als Wachhunde, jagten die Ratten und die Kaninchen und wurden mit Abfällen gefüttert. Sie waren alle gut genährt, nur einer, groß und zottig wie ein alter Bär, war von Tag zu Tag magerer geworden, war bald so ausgezehrt, daß man die Rippen unter dem glanzlosen Fell zählen konnte. Alle hatten angenommen, er wäre krank und würde bald eingehen.
Eingegangen wäre er sicher, aber nicht an einer Krankheit.
Eines Tages hatte Pindar dem Hund das Maul geöffnet, die abgebrochenen, verfaulten Zahnstummel gesehen und sofort begriffen, daß das arme Tier einfach nicht kauen konnte, was ihm als Futter hingeworfen wurde. Es war nahe daran, mitten im Überfluß Hungers zu sterben. Pindar hatte etwas Brot in Soßenreste getunkt, aus dem weichen Brei kleine flache Kuchen geformt und diese dem Hund zu fressen gegeben. Der Hund hatte sie gierig hinuntergeschlungen, und von da ab hatte Pindar das Tier jeden Tag getreulich gefüttert. Es war langsam wieder zu Kräften gekommen und sprang jetzt munter hinter seinem Retter den Pfad entlang.
Als Pindar
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