Seelenfeuer
nicht am Leben bleiben.
60
Wie immer, wenn Ulrika Paulina besuchte, versuchte sie, sich einzureden, daß sie nicht Eirics wegen kam. Wenn sie ihm wirklich begegnete, und ihre Blicke sich trafen, versuchte sie, nicht darauf zu achten, daß ihr Herz plötzlich schneller schlug. Ulrika war gern bereit einzugestehen, daß sie vor sieben Jahren, als sie zwölf gewesen war, eine Art schwesterlicher Zuneigung zu Eiric empfunden hatte, aber von Liebe konnte wahrhaftig keine Rede sein. Das war undenkbar.
Ulrika besuchte Paulina häufig. Das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter und Andreas, ihrem Stiefvater, lebte, war nicht weit entfernt; sie kam, weil sie den kleinen Valerius wie einen Bruder liebte. Sie half ihm beim Lernen, sie spielte mit ihm, jeder gab dem anderen etwas, das ihm in seinem Leben fehlte.
Sie fand Valerius im Peristyl, wo er sich versteckt hatte, um die Ankunft der ersten Gäste zu erwarten, die zu Paulinas großem Fest an diesem Nachmittag geladen waren. Ulrika schlich sich von hinten an ihn heran, packte ihn und schwang ihn hoch in die Luft. Valerius quietschte und strampelte wild mit den Beinen.
»Uff, kleiner Bruder«, rief Ulrika keuchend und ließ ihn herunter. »Dafür wirst du langsam zu schwer. Du bist ja auch schon sechs, ein richtiger großer Junge.«
Aber als sie sich aufrichten wollte, schlang Valerius seine Arme fester um ihren Hals. »Geh nicht weg, Rikki«, bat er.
Sie kniete vor ihm nieder und strich ihm das Haar aus den Augen, die sie unter zusammengezogenen Brauen flehend ansahen. Warum fürchtet er sich immer so? dachte sie.
Paulina war eine gute Mutter, aber sie hatte viel zu tun und erkannte nicht immer die Bedürfnisse des Kleinen. Ulrika erinnerte sich, sie war selbst in ihrer Kindheit oft einsam gewesen, den Erwachsenen im Weg.
»Soll ich lieber nicht auf das Fest gehen, Valerius?«
»Ach, gegen das Fest habe ich gar nichts, Rikki. Ich will nur nicht, daß du Drusus heiratest.«
Ulrikas Gesicht verdüsterte sich. In solchen Momenten hätten die beiden Geschwister sein können; zwei junge Gesichter, die sich in ihrem düsteren Ernst wie Spiegelbilder glichen. Aber gleich lächelte Ulrika wieder.
»Ganz gleich, wen ich heirate, Brüderchen«, sagte sie heiter, »du kommst mich immer besuchen.«
»Ja, aber ich kann nicht mit dir zusammen wohnen.«
»Das tust du doch jetzt auch nicht.«
Valerius machte ein nachdenkliches Gesicht. Sie hatte recht, und doch war es etwas anderes. Rikki wohnte jetzt nur ein paar Häuser weiter und kam beinahe jeden Tag. Er ahnte, daß sich alles verändern würde, wenn sie heiratete, er wußte nur nicht recht, was.
»Dann hast du bald selber einen kleinen Jungen und vergißt mich.«
»Aber Brüderchen!« Sie zog ihn in ihre Arme und drückte ihn an sich. »Was sind das für finstere Gedanken!«
Doch verneinen konnte sie es nicht. Ganz gleich, wen sie einmal heiraten würde, sie würde fortziehen und, das hoffte sie jedenfalls, eigene Kinder haben.
Plötzlich ärgerte sich Ulrika über Paulina. Sie sollte im Beisein des Jungen nicht über solche Dinge sprechen. Zumal Ulrika nicht die geringste Absicht hatte, Drusus zu heiraten. Die Vorstellung war genauso absurd wie der Gedanke, daß sie Eiric lieben könnte.
Während Ulrika Valerius aus dem Innenhof in sein Kinderzimmer führte, dachte sie an Drusus. Er war ein sehr schöner junger Mann aus alter, reicher Familie mit ehrgeizigen Zukunftsplänen. Im Gegensatz zu vielen anderen Verehrern, die um Ulrika warben, war er noch jung, drei- undzwanzig erst. Ihm machte es wie den anderen hoffnungsvollen Bewerbern nichts aus, daß Ulrika bereits neunzehn war, nach römischen Maßstäben zu alt, um noch unverheiratet zu sein. Die Männer waren bereit, das Alter zu übersehen, da eine Heirat mit Ulrika ungeheure Vorteile bot: Sie war schön, sie brachte eine ansehnliche Mitgift mit und sie war aus bester Familie. Tatsächlich gehörte Ulrika zu den begehrtesten jungen Frauen Roms.
Doch wie konnte sie ihrer Mutter und Paulina erklären, daß sie zur Ehe gar nicht bereit war; daß sie sich von einer unerklärlichen, rastlosen Energie getrieben fühlte, der sie keinen Namen geben konnte? Seit ihrem zwölften Geburtstag, damals in Alexandria, spürte Ulrika dieses Feuer in sich, das nach Befreiung drängte.
Aber Befreiung wozu? fragte sie sich, in Valerius’ Zimmer angekommen, wo das Kindermädchen wartete.
Sie fühlte sich getrieben, aber sie wußte nicht, zu welchem Ziel. Der ungeheure Tatendrang, den
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