Seelenfeuer
hatte sie am Morgen gleich zu Ulrika gehen und noch einmal mit ihr sprechen, wollen, um Klarheit zu schaffen. Aber in aller Frühe war ein Bote von der Insel gekommen, ihr zu melden, daß etwas nicht in Ordnung war, und da war Selene sofort losgegangen.
Die Männer standen untätig herum, ratlos und unsicher.
»Was ist es diesmal?« fragte Selene.
Mordecai, der ägyptische Baumeister, trat auf sie zu. »Die Männer sind zur Arbeit bereit, Julia Selena, aber der Vorarbeiter ist nirgends zu finden.«
»Gallus?« Selene sah sich um. Die Männer standen in Gruppen beieinander: Marmorschleifer, Maurer, Steinmetze. Ihre Gesichter waren noch verquollen vom Schlaf der Nacht, viele hielten noch den Krug mit dem Frühstücksbier in der Hand.
»Habt ihr ihn gesucht?« fragte Selene.
»Wir haben ein paar Leute in die Stadt geschickt, um nach ihm zu schauen. Er war nirgends zu finden. Seine Frau sagte, er wäre in der Nacht nicht nach Hause gekommen.«
Selene runzelte die Stirn. War dies ein neuer Schachzug, um die Arbeiten am Domus zu verzögern? Gerade als sie einen Boten zur Bauarbeitergilde schicken wollte, um einen Ersatz für Gallus anzufordern, kam lautes Rufen aus dem Inneren des Domus.
Alle drehten sich um. Rufus stürzte aus dem Bau. »Julia Selena! Herrin!« rief er. »Komm und sieh dir das an.«
Ihr wurde eiskalt. Doch sie wollte vor den Arbeitern ihre Beklemmung nicht zeigen und folgte Rufus mit zusammengebissenen Zähnen in das Bauwerk.
»Da, Herrin, schau!« Er wies zum Dach hinauf.
Unter den Balken und Brettern des Gerüsts flatterte eine weiße Taube.
Selene starrte ungläubig in die Höhe. Der Vogel schwang sich von Balken zu Balken, hinauf und hinunter zwischen den Verstrebungen des Gerüsts, ohne auch nur den Versuch zu machen, durch das offene Dach davonzufliegen und zum Himmel hinaufzusteigen. Die Kuppel war noch nicht errichtet. Das Haus war ohne Dach. Und doch flog die Taube nicht fort.
Plötzlich sah Selene, daß sie etwas im Schnabel hielt – einen grünen Myrtenzweig.
»Das ist ein Zeichen, Herrin!« rief Rufus so laut, daß die Draußenstehenden es hören konnten. »Es ist ein Zeichen von den Göttern.«
Einer nach dem anderen kamen die Männer die Treppe herauf und spähten vorsichtig herein. Als sie oben die weiße Taube sahen, wagten sie sich ganz hinein und blickten wie Selene voller Staunen in die Höhe.
»Venus hat uns ein Zeichen gesandt«, sagte Mordecai, der Ägypter. Die Myrte war der heilige Baum der Göttin.
»Und daher ist es auch ein Zeichen von Cäsar«, rief ein anderer Mann.
Bald drängten sich die Männer nickend und erregt miteinander sprechend weiter in das Domus. Als das Geräusch vieler Stimmen die große, dachlose Rotunde füllte, neigte sich Rufus nahe zu Selene und murmelte: »Gallus ist fort, Herrin. Er kommt nicht wieder.«
Sie sah ihn an. »Warum nicht? Wohin ist er gegangen?«
Rufus antwortete nicht. Aber als Selene wieder zu der Taube hinaufsah, genauer und aufmerksamer diesmal, sah sie, was keiner der anderen bemerkt hatte: daß der Myrtenzweig mit einem Faden am Schnabel des Vogels befestigt war, und daß ein sehr feiner Faden einen seiner Füße mit dem mittleren Dachbalken verband.
Mit einem Schlag begriff Selene. Sie war beeindruckt. Sich Rufus zuwendend, sagte sie: »Das ist in der Tat ein Zeichen des göttlichen Julius. Es sagt uns, daß die Arbeit am Domus weitergehen muß. Aber nun habe ich keinen Vorarbeiter.«
»Ich will gleich zur Gilde gehen, Herrin.«
»Warte, Rufus.« Sie hielt ihn fest. »Willst du nicht den Posten übernehmen?«
»Ich? Herrin, ich bin doch nur ein alter Soldat.«
»Ich bezahle gut, und du bekommst dreimal in der Woche Fleisch.«
Rufus grinste breit. »Es wäre eine Beleidigung gegen dich, wenn ich’s nicht wenigstens versuchen wollte.«
Als sie etwas später den Weg zum Tempel einschlug, waren die Männer wieder an der Arbeit, und der Gesang ihrer Hämmer und Meißel schallte über die Insel.
In dem kleinen Steinhaus, wo früher Wein und Rauchfleisch gelagert worden waren und das Selene in einen Arbeitsraum für sich umgewandelt hatte, erwartete Ulrika sie. Auch sie sah müde und blaß aus. Steif und förmlich wie eine Fremde stand sie vor ihrer Mutter.
»Ich bin gekommen, weil ich dich bitten möchte, mir alles zu sagen«, begann sie.
»Worüber?«
»Ich möchte alles wissen, was Gaius Vatinius dem Volk meines Vaters angetan hat.«
»Wie meinst du das?«
»Mein Vater hat es dir erzählt. Jetzt
Weitere Kostenlose Bücher