Seelenfeuer
gleich, wie weit wir eines Tages voneinander entfernt sein werden, durch das Kreuz bleiben wir immer verbunden.«
Er lachte. »Wir bleiben doch immer zusammen, Rikki. Du wohnst ja nur ein paar Häuser weiter.«
Sie unterdrückte die aufsteigenden Tränen.
»Hör mir zu, Brüderchen. Sieh mich an und hör mir zu. Das Kreuz hat eine große Bedeutung. Du mußt es immer behalten. Und eines Tages, wenn du mich einmal brauchst –« Ihr brach die Stimme.
»Warum bist du so traurig, Rikki?«
Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn an sich.
»Hör mir zu, Valerius. Du mußt mir etwas versprechen. Wenn du mich jemals brauchen solltest, ganz gleich, wo du bist, oder wie alt du bist, dann schickst du mir dieses Kreuz und ich komme zu dir.«
Seine Stimme wurde durch ihr Haar gedämpft. »Aber wo wirst du denn sein, Rikki?«
»Das alles lasse ich dich wissen, wenn ich kann, Brüderchen. Sonst frag Selene. Das Kreuz wird seinen Weg zu mir finden, Valerius, und ich werde dann sofort zu dir kommen, ganz gleich, wo du bist. Das verspreche ich dir.«
»Und wenn du
mich
brauchen solltest«, erwiderte Valerius, der den Ernst des Augenblicks spürte, »dann schicke mir dein Kreuz, Rikki, und ich komme zu dir.«
Ulrika neigte sich zurück und blickte in das kleine Gesicht, das immer von Furcht beschattet war. Zum erstenmal sah sie das Gesicht, wie es sein würde, wenn Valerius erwachsen war. Es war das Gesicht eines schönen und mutigen Mannes.
»Ja«, sagte sie innig. »Wenn ich dich brauche, Brüderchen, schicke ich dir mein Kreuz als Zeichen.«
Sie eilte aus dem Kinderzimmer, ehe er ihre Tränen sehen konnte. Im Innenhof nahm sie ihr Bündel, das sie dort abgelegt hatte, ging in den Garten hinaus, blickte zur Sonne hinauf, um ihren Stand festzustellen, und marschierte dann den Esquilin hinunter in Richtung zur Straße nach Ostia. Sie trug feste Stiefel und hatte in ihrem Gürtel genug Geld, um ihr Ziel erreichen zu können. Und von ihrer linken Schulter hing ihr Medizinkasten herab.
Ulrika ging schnell. Sie wußte, daß die Götter sie begleiteten.
65
»Du bist die Frau namens Marcella?«
»Ja.«
»Du bist Hebamme auf der Tiberinsel?«
»Ja.«
Kaiserin Agrippina nickte den Sklavinnen im Zimmer zu, und sie gingen hinaus. Marcella, plötzlich allein mit der Kaiserin und ohne eine Ahnung, warum man sie in den kaiserlichen Palast geholt hatte, trat nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Mir wurde berichtet«, bemerkte Agrippina, »daß du Julia Selena von ihrem Kind entbinden wirst. Ist das richtig?«
»Ja, Herrin. Sie hat mich darum gebeten. Ich habe dreißig Jahre Erfahrung in meinem Beruf.«
»Wann kommt das Kind?«
»In zwei Wochen.«
»Ich habe einen Auftrag für dich.«
Marcella wurde beklommen zumute. Sie hatte Gerüchte über diese grausame Frau gehört; Menschen wären auf ihr Geheiß plötzlich verschwunden, munkelte man, andere, völlig Unschuldige, wären zu Tode gebracht worden, ohne je zu erfahren, welchen Verbrechens man sie beschuldigte. Kein Wunder, daß Marcella einen Schrecken bekommen hatte, als sie die kaiserliche Vorladung erhalten hatte.
Agrippina griff nach einem kleinen Beutel, der auf dem Tisch neben ihrem Ruhebett lag, und hielt ihn Marcella hin. Diese nahm ihn verwundert.
»Wenn die Wehen einsetzen«, sagte Agrippina, »schickst du alle anderen fort. Sorge dafür, daß du mit Julia Selena allein bist, wenn das Kind zur Welt kommt. Hast du mich verstanden?«
Marcella nickte.
»Und wenn das Kind ein Knabe ist, wirst du es ersticken bis es tot ist. Dann wirst du Julia Selena sagen, daß es eine Totgeburt war.«
»Herrin!« rief Marcella entsetzt. »Das kann ich nicht tun.«
Agrippina fixierte sie mit ihren grünen Augen. Es war ein Blick, der die Menschen in die Knie zwang.
»Du wirst tun, was ich sage.«
»Aber Herrin –« begann Marcella und brach ab. Sie begriff. Ein Knabe, den das Volk als Erben seines verehrten Julius Cäsar anerkennen konnte, war für Agrippina, die ihren Sohn auf dem Thron sehen wollte, ein Hindernis.
Marcella warf den Beutel mit dem Gold auf den Tisch, richtete ihren rundlichen Körper kerzengerade auf und sagte entschlossen: »Nein, das werde ich nicht tun.«
Agrippina seufzte. »Ich hatte gehofft, du würdest keine Schwierigkeiten machen. Man sagte mir, du wärst eine gescheite Frau. Ich sehe jetzt, daß du das nicht bist.«
Die Kaiserin klatschte in die Hände, und ein Sklave trat ein. Er legte mehrere Schriftrollen auf den Tisch und glitt
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