Seelenfeuer
in Rom aufwachsen und auf seinen Urgroßvater stolz sein. Mich zieht es nach Norden. Ich habe mit Rom nichts zu schaffen. Mich begleitet Odin auf meinem Weg zu meinem Vater.«
Selene schluchzte auf. »Es ist so weit, Rikki! Und so gefährlich. Dein Zuhause ist hier, in Rom, bei mir.«
»Nein, Mutter. Gerade du mußt doch verstehen können, warum ich fort muß. Du hast einen großen Teil deines Lebens der Suche nach deinen Wurzeln und deiner Bestimmung gewidmet. Jetzt muß ich mich auf die Suche begeben.«
Selene starrte auf die Tür, die hinter ihrer Tochter zufiel, dann sank sie auf einen Stuhl. Flüchtig hatte sie den Impuls, aufzuspringen und Ulrika aufzuhalten. Sie wollte sie festhalten, bei sich in Rom behalten, für immer an ihrer Seite. Doch schon im nächsten Augenblick wußte sie, daß sie das nicht tun durfte. Vor vielen Jahren hatte Mera versucht, Selenes Schicksal einen anderen Lauf zu geben, indem sie selbst es gesteuert hatte. Selenes Bestimmung war es gewesen, ihr Leben mit Andreas zu verbringen. Mera hatte das nicht annehmen können und hatte Selene auf einen Weg gezwungen, der ihren Vorstellungen entsprochen hatte.
Genau das gleiche hatte Selene eben tun wollen – Ulrika daran hindern, ihrem selbst erwählten Weg zu folgen. Aber das durfte sie nicht.
64
Ulrika mußte sich beeilen. Am Abend zuvor hatte Gaius Vatinius ihr gesagt, daß er mit einer Legion von sechstausend Mann in fünf Tagen nach Germanien aufbrechen werde. Ulrika mußte vor Vatinius am Rhein eintreffen.
Zuerst lief sie zum Forum, wo sich ein geschäftiger Markt mit Hunderten kleiner Läden und Buden befand. Dort ließ sie von einem Holzschnitzer eine Nachbildung des Odinkreuzes anfertigen, das sie um den Hals trug, und wickelte es in ein Leinentüchlein.
Danach eilte sie zum Haus ihrer Eltern auf dem Esquilin. Andreas saß in seinem Arbeitszimmer über seiner Encyclopädie. Ulrika wäre gern hineingegangen, um ihm Lebewohl zu sagen, doch dazu war keine Zeit. Er würde es verstehen.
In ihrem Zimmer packte sie in aller Eile ihre Sachen. Sie wählte die wärmsten Gewänder, ein Paar extra Sandalen und einen zusätzlichen warmen Umhang. Dann stellte sie sich aus den Vorräten ihrer Mutter einen Grundstock an Medikamenten und medizinischen Hilfsmitteln zusammen und nahm aus ihrem Schmuckkasten den Türkis, der einst Rani gehört hatte. Sie hängte ihn neben das Odinskreuz an ihre Halskette. Zuletzt packte sie noch zwei Bücher aus der Bibliothek ein.
Materia Medica
von Pedanius Dioscorides und
De Medicina
von Celsus.
Paulina traf sie nicht an, als sie zu deren Villa kam. Froh, keine Erklärungen geben zu müssen, lief sie direkt zum Sklavenhaus.
Eiric war nicht da.
Sie hatte ihm sagen wollen, er solle sich bereitmachen. Doch er war weder im Haus, noch irgendwo auf dem Gelände. Seit Tagesanbruch hatte niemand ihn mehr gesehen.
Da wußte sie, was geschehen war. Eiric war entflohen.
Er hatte ihr kein Wort davon verraten. Er hatte die Flucht allein angetreten. Sie wußte, warum. Sie erinnerte sich an sein grimmig entschlossenes Gesicht in der vergangenen Nacht, an das gedankenvolle Schweigen, in das er sich zurückgezogen hatte. Er hatte schon da vorgehabt zu fliehen und hatte es vor ihr geheimgehalten.
Um meinetwillen, dachte sie. Er hat es für mich getan. Sie wußte, wohin sein Weg ihn führen würde – nach Norden, zu seinem Volk. Und sie war zuversichtlich, daß sie ihn finden würde. In Germanien würde Ulrika ihren Vater, ihren Bruder und den Mann, den sie liebte, finden.
Sie lief zum Kinderzimmer hinauf und schickte das Kindermädchen weg, um mit Valerius allein sein zu können.
»Brüderchen«, sagte sie und kniete vor ihm nieder. »Ich möchte dir etwas schenken.«
»Gestern abend bist du überhaupt nicht mehr in mein Zimmer gekommen, Rikki«, beschwerte er sich. »Ich habe die ganze Zeit gewartet, aber du bist nach dem Fest nicht gekommen.«
»Sei mir nicht böse, Valerius. Ich fühlte mich nicht wohl. Ich weiß, daß ich versprochen hatte, dir eine Überraschung zu bringen, aber ist das hier nicht viel schöner?«
Er machte große Augen, als sie das Tüchlein auseinanderschlug.
»Das ist ja das gleiche wie deins!« rief er und griff nach dem Kreuz.
Während Ulrika Valerius die Kette über den Kopf streifte und ihm das Kreuz auf die Brust legte, sagte sie feierlich: »Das ist ein ganz besonderes Geschenk, Brüderchen. Es ist wirklich das gleiche wie meins, und es verbindet uns ganz fest miteinander. Ganz
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