Seelenfeuer
hatte, nicht genug danken. Der arme Bursche war jahrelang mißhandelt worden, von Kindern verlacht und verspottet, mit faulen Früchten und Eiern beworfen, Opfer unzähliger herzloser Streiche. Dabei war Pindar einfach nur einfältig; er hatte nicht den bösen Blick, wie die Leute behaupteten.
Er konnte nichts für seine Einfalt. Die kam nur daher, daß ihm viel zu früh nach seiner Geburt die Mutter genommen worden war. Rufus hatte um das Leben des jungen Mädchens gekämpft, aber er hatte es nicht retten können. Sie hatten sie direkt aus dem Kindbett in den eisigen Wüstenwind hinausgeschleppt, und diesen Schock hatte sie nicht überstanden.
Sie waren sich alle einig gewesen, Rufus und die anderen Soldaten, daß es nicht recht war, die Mutter und ihr neugeborenes Kind zu töten. Sie hatten den Römer getötet, das reichte. Was konnte dieses jammervolle Paar Tiberius schon anhaben? Die Soldaten, die von Palmyra ausgesandt worden waren, hatten einen geheimen Pakt geschlossen: Die junge Frau und ihr Kind sollten verschont werden. Rufus aber hatte noch ein Geheimnis gehabt, eines, das er ganz für sich behalten und nicht einmal mit den anderen geteilt hatte: daß er gesehen hatte, wie sich die Hebamme mit einem zweiten Säugling im Arm im Maisspeicher versteckt hatte.
Schlimm war es gewesen, in das kleine Haus einzubrechen und den Römer zu töten. Die Soldaten hatten nicht gewußt, warum sie es taten, sie befolgten nur einen Befehl des neuen Kaisers, Tiberius. Aber selbst hartgesottene alte Legionäre konnten menschlich handeln; darum hatten sie die Mutter und das Neugeborene verschont.
Doch die Mutter war ihnen noch auf der Straße zur Festung unter den Händen gestorben. Sie hatten sie begraben und den Säugling mitgenommen. Rufus’ junge Frau, die vor kurzem selbst ein Kind geboren hatte, hatte ihn an ihre Brust genommen.
Mit Wehmut dachte Rufus, während er sich dem weiß leuchtenden Domus näherte, an jene ferne Zeit. Seine Lavinia, so jung und so zart, war dem rauhen Leben als Soldatenfrau nicht gewachsen gewesen; sie und ihr Kind waren am Kindbettfieber gestorben, das in jenem Sommer in Palmyra so viele junge Mütter und neugeborene Kinder dahingerafft hatte. Aber der Findeljunge hatte überlebt. Rufus hatte dieses Wunder als einen Fingerzeig der Götter betrachtet. Sie hatten ihm für den verlorenen Sohn einen anderen geschenkt. Da er den Namen des Jungen nicht wußte, nannte er ihn Pindar und zog ihn als seinen eigenen Sohn auf.
Merkwürdig war, wie Pindar sich an Julia Selena angeschlossen hatte. Nach Jahren der Mißhandlung hatte Pindar gelernt, sich den Menschen fernzuhalten, möglichst immer im Hintergrund zu bleiben. Eines Tages auf dem Forum jedoch, als Rufus und sein Sohn sich die Waren eines Sandalenmachers angesehen hatten, war Pindar plötzlich von der schützenden Seite des Vaters verschwunden, um einer fremden Vorüberkommenden nachzulaufen. Sie hatte sich in der Menge verloren, und Rufus hatte Pindar schließlich völlig aufgelöst und erregt an der Straße wiedergefunden.
Tage später hatte Pindar die Frau wiederentdeckt; auf dieser Insel. Und nichts hatte ihn mehr von hier wegbringen können.
Nun ja, dachte Rufus, während er sich im Arbeiterlager nach einem Vorarbeiter umsah, Tiere hatten ja angeblich den besonderen Instinkt, der ihnen verriet, wer ein gutes Herz hatte und wem man vertrauen konnte. Vielleicht hatte auch Pindar in seiner Einfalt diesen Instinkt mitbekommen; so verhielt er sich nämlich, wie ein Hund, der seiner Herrin treu ergeben ist.
Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war beinahe unheimlich. Die anderen sahen sie vielleicht nicht, aber Rufus war sie sofort aufgefallen – die Ähnlichkeit der beiden Gesichter. Vielleicht war das die Erklärung, warum Pindar sich so heftig zu Julia Selena hingezogen fühlte. Hier sah er ein Gesicht, das er kannte und dem er vertrauen konnte.
Rufus blieb stehen und sah sich aufmerksam um. Wachen waren genug da um diese späte Stunde, aber nicht einer der Wächter befand sich, wie er feststellte, im Inneren des halbfertigen Gebäudes. Er fand das sehr sonderbar. Sollten sie nicht gerade drinnen aufpassen, wo voraussichtlich die nächste Ungeheuerlichkeit geschehen würde?
Selene war außer Atem, als sie auf der Baustelle ankam. Sie war müde an diesem kühlen frühen Morgen. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Sie hatte nach dem Gespräch mit Ulrika in der vergangenen Nacht kaum geschlafen und machte sich Sorgen.
Eigentlich
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