Seelenfeuer
hinaus.
Ulrika lag da und starrte zur Decke hinauf, während sie den fernen Nachtgeräuschen der Stadt lauschte. Ihr Kopf schmerzte. Während sie jetzt dalag und in die Finsternis starrte, versuchte sie, sich über ihre Gefühle klarzuwerden, aber es gelang ihr nicht. Sie spürte Schmerz und Enttäuschung und sie fühlte sich verraten. Aber sie empfand auch ein tiefes Mitleid mit ihrer Mutter, mit der jungen Frau, die ein Kind unter dem Herzen getragen und den Mann, den sie liebte, fortgeschickt hatte um seinetwillen. Ulrikas Bewunderung für ihre Mutter, die dieses Opfer gebracht und das Geheimnis um eines Kindes willen jahrelang mit sich herumgetragen hatte, lag im Kampf mit ihrem Zorn darüber, daß ihr die Wahrheit verschwiegen worden war. Sie dachte an ihren Vater, der gewiß noch am Leben gewesen war, als sie in den Jahren ihrer frühen Kindheit von ihm geträumt hatte. Vielleicht war er auch noch am Leben gewesen, als sie damals in Jerusalem dem Raben nachgejagt war. Und er hatte nicht gewußt, daß er am anderen Ende der Welt eine Tochter hatte.
Ulrika fiel in einen kurzen Schlummer und hatte einen Traum. Ihr träumte, sie stünde von ihrem Bett auf, ginge zum Fenster, stieg hinaus und lande barfuß im Schnee. Hohe Fichten standen ringsum, und Wolkenfetzen trieben über das Angesicht des Mondes. Sie sah Spuren im Schnee – die Abdrücke großer Pfoten, die in den Wald hineinführten. Sie folgte ihnen, vom Strahl des Mondes begleitet. Plötzlich erblickte sie einen großen zottigen Wolf mit goldenen Augen. Sie setzte sich in den Schnee, da kam er zu ihr, streckte sich neben ihr aus und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Die Nacht war klar, so klar wie die Augen des Wolfes, der zu ihr aufblickte. Unter seinen Rippen konnte sie den ruhigen Schlag seines Herzens spüren. Die goldenen Augen schienen zu sagen: Hier ist Vertrauen, hier ist Liebe, hier ist Zuhause.
Ulrika erwachte, war einen Moment verwirrt, als sie sich in ihrem Bett sah und den milden Duft der Frühlingsnacht wahrnahm. Sie stand auf und ging zum Fenster. Weiß, wie unter einer Schneedecke lag die Erde unter ihr, übersät von den Blütenblättern der Obstbäume. Sie spähte in die Bäume und sah Bewegung.
Eiric war dort.
Sie schlich sich aus ihrem Zimmer, durch den Innenhof zur Hintertür, die in den Obstgarten führte. Sie ging zu dem Baum, unter dem er saß. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Um den Kopf trug er ein schmales goldenes Band. Seine hellen Locken fielen ihm bis auf die Schultern. Er war schön.
»Eiric«, sagte sie.
Er fuhr herum und sprang auf. Einen Moment lang standen sie sich im Mondlicht gegenüber. Dann lag sie in seinen Armen. Ihr schwindelte unter der Berührung seines Körpers und unter seinen Küssen. Jeden Teil seines Körpers wollte sie mit ihren Händen berühren. Er küßte ihr die Tränen von den Wangen und sagte ihr flüsternd, wie sehr er sich nach ihr gesehnt hatte.
Die weißen Blättchen der Orangenblüten lagen wie eine Decke unter ihrem bloßen Rücken, als sie Eiric in sich aufnahm. Durch das Filigran von Ästen und Blättern konnte sie den schimmernden Mond sehen. Der Schmerz verebbte. Zorn und Groll und das Gefühl, verraten worden zu sein, verglühten unter Eirics Leidenschaft.
»Wir gehen zusammen fort«, flüsterte sie. »Wir verstecken uns. Ich liebe dich. Ich liebe dich.«
Eiric sagte nichts. Er wußte schon, was er zu tun hatte. Er würde nicht mit ihr fliehen, sich mit ihr verstecken, nur um dann gedemütigt und grausam bestraft zu werden, wenn man sie fand. Dies war etwas, das er allein tun mußte. Er mußte sich ihrer würdig erweisen.
Dann würde er zurückkommen und sie mit sich nehmen, in allen Ehren; dorthin, wo sie gehörte; wohin sie beide gehörten. In den Norden.
63
Entschlossenen Schritts marschierte Rufus über die Brücke. Er hatte gehört, was im Domus vorging, gemeine Tücken, um die Arbeiter zu verschrecken, und er war hell empört darüber. Keinesfalls würde er das tatenlos mitansehen. Dieser Niederträchtigkeit mußte ein Ende bereitet werden.
Still lag die Insel im Mondlicht der Frühlingsnacht. Am Eingang zum Tempel brannten Fackeln, doch das Haus des Gottes schien leer und unbelebt. Am anderen Ende der Insel jedoch, dort, wo das Baugelände war, brannten viele Lichter, und Männer mit Knüppeln an ihrer Seite saßen um die Lagerfeuer.
Zielstrebig näherte sich Rufus dem Domus. Er konnte Julia Selena für das, was sie für ihn und seinen Sohn Pindar getan
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