Seelenfeuer
finsteren Schacht sank, wo nichts sie erwartete als glühender Schmerz.
Der Boden war kalt und hart, doch Selene wurde von einem schwarzen Feuer verschlungen. Minuten dehnten sich zu Stunden und diese zu Tagen, die zur Ewigkeit wurden. Pindar war nur noch eine ferne Erinnerung.
Dann sah sie Füße auf sich zu eilen. Der göttliche Julius schien es sich anders überlegt zu haben, schien zurückzukehren, um ihr zu helfen. Aber es waren Pindars Füße. Sie sah sein Gesicht, als er sich über sie beugte und ihr, auf seine Kinderart babbelnd, erklärte, daß er Angst gehabt hatte, bis zur Insel zu laufen, um Marcella zu holen. Er wollte Selene nicht allein lassen. Weinend versuchte er, sie aufzurichten.
Selene war entsetzt; er war nur Minuten weg gewesen.
»Irgend etwas ist nicht in Ordnung«, flüsterte sie.
Er schob seine kräftigen Hände unter ihre Arme und zog sie hinter das Standbild zurück. Da erst wurde Selene mit Verwunderung bewußt, daß sie über den Boden gekrochen war. Wohin? fragte sie sich.
Sie sah, wie Pindar das Schloß der Steintruhe erbrach und den Deckel hob. Von einer neuen Schmerzwelle überflutet, dachte Selene seltsam losgelöst, das darf er nicht. Das ist Tempelschändung.
Dann fiel ihr ein, warum sie gekrochen war. Sie hatte versucht, aus dem Tempel hinauszukommen, weil das Heiligtum durch eine Geburt entweiht werden würde.
Wieso eigentlich? dachte sie, während sie unter dem Ansturm der nächsten Welle keuchte. Dies ist das Wunder des Lebens. Die Götter selber haben es erdacht.
Die Abstände zwischen den Wehen, in denen Selene atmen und denken konnte, wurden immer kürzer, bis sie unter einer Flutwelle des Schmerzes versank. Sie wurde selber zum Schmerz, denn er hatte sie verschlungen und trug sie nun fort zu einem dunklen Ort außerhalb von Zeit und Leben. Pindar tat irgend etwas – riß scharlachrote Gewänder und goldene Gürtel aus der Truhe.
»Darfst du nicht …«, murmelte sie.
Er schluchzte, er war halb besinnungslos vor Angst, doch er war entschlossen, bei ihr zu bleiben und ihr beizustehen. Ein Kissen für ihren Kopf, ein zweites unter ihr Becken. Selene blickte zur gewölbten Decke des Tempels hinauf und spürte warme Sommerluft auf ihren Beinen, als Pindar ihr Gewand hochschob.
Sie dachte an Ulrikas Geburt, versuchte sich zu erinnern, wie sie sich gefühlt hatte. Es war ganz anders gewesen. Sie hatte in einem großen, weichen Bett gelegen, Rani hatte ihr warmen Wein eingeflößt, der alte Priester des Zoroaster, der schon tausend Kinder in die Welt befördert hatte, hatte sie versorgt. Ulrika schien einfach aus ihrem Schoß ins Leben hinausgesprungen zu sein.
Ja, so ist Ulrika, dachte Selene, sich aus ihrem gemarterten Körper lösend. Wo immer sie jetzt auch sein mag, ob sie an der Seite ihres Vaters kämpft oder noch auf der Suche nach ihm ist, sie wird immer versuchen, das Leben zu umarmen.
Wieder verspürte sie Schmerz, anders diesmal, tiefer. Es war ein schneidender Schmerz, der sie erschreckte. Dann fühlte sie Pindars Hand auf ihrer Stirn, und die Berührung war wie unerwarteter Balsam.
Ich bin zu alt, dachte sie. Ulrika wurde vor neunzehn Jahren geboren, als ich noch jung war … Mein Körper hat sich verhärtet; er wehrt sich gegen die gewaltsame Öffnung. Ich sterbe …
»Ich behalte es«, flüsterte sie. »Ich behalte dieses Kind in mir und trage es immer bei mir.«
Sie schrie.
Tauben flatterten von den Dachbalken und schwirrten wie gejagt durch das Gewölbe, ehe sie sich wieder niederließen.
Selene schrie wieder.
Nein, so war es nicht richtig. Sie fühlte es, und Pindar sah es. Sie wehrte sich. Er wollte ihr sagen, das solle sie nicht tun. Er versuchte, sie zu beruhigen, sie zu entspannen. Er versuchte ungeschickt, ihr zu befehlen, Ruhe zu geben und alles von selber geschehen zu lassen; sagte ihr, daß ihr Kämpfen nur Schaden anrichtete.
Doch der Schmerz zwang sie, sich zu wehren und wurde dadurch nur schlimmer. Voll Angst und Entsetzen erkannte Selene, daß sie sich tatsächlich umbringen würde, aber sie konnte nicht dagegen an, der Schmerz, der rasende Schmerz …
Zärtliche Arme umfingen sie, liebevolle Worte drangen in ihr Ohr.
»Es ist gut«, sagte sie zu dem treuen Toren, der sie in den Armen hielt und an ihrer Schulter weinte.
Pindar wiegte sie wie ein Kind, und Selene fand, es wäre das Wunderbarste auf der Welt. Er weiß, was ich brauche, dachte sie. Er weiß es besser, als Marcella es gewußt hätte. Ich brauche jemanden, der
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