Seelenfeuer
sich schwerfällig und mußte häufig stehenbleiben, um Luft zu holen. Das Kind in ihrem Leib hatte sich am vergangenen Tag gedreht; es lag jetzt tief in ihrem Schoß.
Das Heiligtum des göttlichen Julius stand auf einem mit Springbrunnen und Hecken gezierten Stück Rasen, ein kleiner Rundbau, dessen Dach von Säulen getragen wurde. Nebengebäude gab es nicht; die Priester lebten anderswo. Drinnen stand nur die Statue Julius Cäsars, zu deren Füßen ständig ein Feuer brannte.
Selene atmete auf, als sie in den kühlen Raum trat. Sie drückte eine Hand in ihren Rücken und dachte, sie hätte vielleicht doch auf Andreas hören sollen, der ihr geraten hatte, sich in einer Sänfte tragen zu lassen. Aber das war ihr übertrieben erschienen bei dem kurzen Weg, und der Morgen war ja kühl gewesen.
Sie blickte in das steinerne Gesicht ihres Vorfahren und fragte sich, ob er wirklich in diesem Tempel anwesend war.
»Göttlicher Julius«, murmelte sie und legte ihm die Blumen zu Füßen, »bitte schütze und behüte Ulrika, deine Urenkelin. Sie hat dich verleugnet, aber sie ist jung. Sie muß erst ihren Weg finden, wie ich den meinen finden mußte. Sie wird eines Tages zu dir zurückkehren.«
Selene versank in zufriedener Nachdenklichkeit. Alles ging wie geplant. Seitdem Rufus im April den Posten des Vorarbeiters übernommen hatte, schritten die Arbeiten am Domus zügig fort. Die Kuppel war vollendet; die Wände, Säulen und Torbögen waren fertiggestellt. Jetzt konzentrierten sich die Arbeitsmannschaften auf die kleineren Dinge – Türriegel, Fenstergitter. In zwei Monaten würden sich die Tore des Domus Patienten und Lernbegierigen öffnen.
Selene schloß die Augen. Sie hatte das Gefühl, an einer Schwelle zu stehen. Einen so weiten Weg hatte sie zurückgelegt; ein noch längerer schien sich vor ihr zu dehnen. Bald würde sie ihre gemeinsame Arbeit mit Andreas aufnehmen.
Sie spürte, wie ihr Leib sich plötzlich zusammenzog, fühlte warme Feuchtigkeit zwischen den Beinen.
Das ist zu früh, dachte sie, während ein Krampf, der in ihrem Rücken begann, sich um ihren ganzen Leib ausdehnte.
»Pindar, ich muß mich setzen. Hilf mir. Sieh, ob –« Ein neuerlicher krampfartiger Schmerz, heftiger diesmal, durchzuckte sie.
Pindar nahm sie beim Arm und führte sie hinter das Standbild Julius Cäsars, wo eine große steinerne Truhe stand, die Räucherwerk und die Gewänder der Priester enthielt. Selene ließ sich darauf niedersinken und legte beide Hände auf ihren Bauch. Ehe sie Atem schöpfen konnte, überfiel sie die nächste Wehe, stärker noch als die letzte.
»Hol Marcella«, stieß sie atemlos hervor. »Ich gehe nach Hause.«
Pindar schüttelte den Kopf.
»Geh!« Sie gab ihm einen Stoß. »Es ist noch Zeit genug. Ich komme schon zurecht. Ich gehe langsam. Lauf schon, Pindar!«
Er zögerte einen Moment, dann wirbelte er auf dem Absatz herum und rannte los. Flüchtig sah sie seine Gestalt in der Öffnung des Tores, von der Augustsonne umflossen, so daß es aussah, als wäre er wie der Gott Helios auf den Bildern, die ihn zeigten, von einem goldenen Strahlenkranz umgeben – dann war er fort, und sie blieb allein zurück.
Die nächste Wehe war so heftig, daß sie sich vor Schmerz krümmte und beide Hände in den Saum ihres Gewandes krallte. Kalter Schweiß brach ihr aus allen Poren, während gleichzeitig glühende Hitze in ihrem Körper brannte.
Nur eine kurze Atempause war ihr gegönnt, ehe die nächste Wehe kam, ein feuriges Eisenband, das ihren Leib umklammerte. Einen Moment lang wurde es Selene schwarz vor Augen. Sie war blind und taub, nahm nichts wahr als den schrecklichen brennenden Schmerz.
So war es bei Ulrika nicht, schoß es ihr durch den Kopf. Das kann nicht richtig sein.
Sie versuchte aufzustehen. Eine Schmerzwelle riß sie um; sie fiel auf die Knie, sank keuchend zu Boden. Der Stoff ihres Gewandes klebte kalt und feucht an ihrer Haut. Sie wartete. Die nächste Schmerzwelle schien in ihrem Herzen zu beginnen, eine Flut flüssigen Feuers, die durch sie hindurchschoß und in ihrem Leib sich überschlug.
Sie schrie auf.
Danach lag sie eine Weile reglos, keuchend und versuchte, ihre Kräfte zu sammeln, um dem nächsten Ansturm standhalten zu können. Der Schmerz war grauenvoll.
»Hilfe«, flüsterte sie, aber sie meinte, sie hätte es geschrien.
Dieses Kind wird mich töten. Ich sterbe.
Sie merkte, wie sie fortglitt. Sie sah die Marmorfüße Julius Cäsars davonschweben, während sie in einen
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