Seelenfeuer
mich hält, der meinen Schmerz teilt, ihn zerschneidet und von mir nimmt.
Und da sah sie plötzlich ihre Seelenflamme. Nur einmal zuvor hatte sich die Flamme von selber gezeigt, ohne beschworen worden zu sein, und nun war sie da, ganz unerwartet, und leuchtete so hell und strahlend wie ein Stern. Glücklich lief Selene ihr entgegen und umarmte sie, wie Pindar sie umarmte.
Erst da merkte sie, daß es nicht
ihre
Seelenflamme war. Es war eine andere, kühlere, süßere Flamme. Es war Pindars Flamme, und sie brannte hell und licht, während Selene sie festhielt.
Selene begann zu weinen, dann lachte sie und dann rief sie: »Hier ist es!« Eine letzte Schmerzwelle überschwemmte sie, und dann strömte alles flüssige Feuer aus ihr heraus.
66
Geister begleiteten sie. Selene spürte ihre Anwesenheit in der milden Herbstluft. Sie hatten sich versammelt, sie zu führen, ihr Glück zu teilen, während sie durch das Domus schritt, das leer stand an diesem Oktobernachmittag.
Die Arbeitsmannschaften waren vor einer Woche entlassen worden. Reinigungstrupps hatten das Haus von unten bis oben geputzt, um es zu strahlendem Glanz zu bringen. Im Domus roch es nach Pflanzenölen und Bienenwachs, nach frischem Talg und Kräutern; die Marmorböden schimmerten wie klares Wasser, die weißen Decken waren noch nicht geschwärzt von Lampenqualm. Das Domus Julia – neu und jung, für seine Aufgabe bereit.
Von Pindar gefolgt, der den drei Monate alten Julius trug, trat Selene in die große Rotunda, die den Mittelpunkt des Gebäudes bildete, und sah sich langsam um sich selbst drehend zur gewaltigen Kuppel hinauf. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck staunender Verwunderung, als sähe sie das Domus zum erstenmal. Weiter gingen sie durch die vielen Räume: die Krankenzimmer mit den neuen Betten, die Vorratskammern, die Turnhalle und die Bibliothek, Andreas’ Unterrichtsräume. In ihrer Vorstellung sah Selene die Patienten, die Pflegerinnen, die Ärzte und Lehrer, spürte die Kraft und das Leben, die bald diese noch leeren Räume füllen würden. Sie sah das Domus so, wie sie es seit den Tagen in Persien, seit ihrer Begegnung mit Dr.Chandra und dem Pavillon in ihren Träumen gesehen hatte.
Damals hatte der Bau des Domus Julia begonnen, während der abendlichen Gespräche mit Rani. Sie schritt jetzt an Selenes Seite, diese kluge, liebenswerte Freundin, ein freundlicher Geist der Vergangenheit, der gekommen war, Selene zu beglückwünschen.
Die Patienten müssen immer wach und munter gehalten werden, hatte Rani viele Male behauptet.
Kranke müssen schlafen, hatte Selene widersprochen.
Es war einer der wenigen Punkte gewesen, über den sie sich niemals hatten einigen können; doch Selene hatte ihre Auffassung durchgesetzt. Über dem Eingang zum Domus stand geschrieben: Der Schlaf ist das Heilmittel des Schmerzes. Eine Mahnung an Personal und Besucher, das Ruhebedürfnis der Kranken zu achten.
Selene zweifelte nicht, daß die Besucher in Scharen in das Domus Julia strömen würden. Seit Monaten ergingen sich die Römer in neugierigen Mutmaßungen über das Gebäude, das am Nordende der Insel entstanden war. Eine Zuflucht für die Kranken und Leidenden? Kein Tempel, wo man dem Priester einen Obolus bezahlte, um die Nacht dort verbringen zu dürfen, sondern ein Haus, wo man versorgt wurde wie im eigenen Heim. Die Römer hatten von so einer Einrichtung nie gehört, konnten sich überhaupt nichts darunter vorstellen. Die provisorischen kleinen Pflegeräume auf der Insel, wo man sich um Kranke und Verletzte gekümmert hatte, solange das Domus im Bau gewesen war, waren mit diesem ›Krankenhaus‹ nicht zu vergleichen.
Morgen, bei der Eröffnungsfeier, würde es den Bürgern Roms gestattet sein, alle Räume und Säle des Domus Julia zu besichtigen und die Geheimnisse zu entdecken, die dieser stattliche Kuppelbau barg.
In der Bibliothek blieb Selene einen Moment stehen. Borde voller Schriftrollen und Codex Bücher zogen sich vom Boden bis zur Decke an den Wänden entlang. Hier waren alte Rezepturen und Zauberformeln aus Ägypten, eine medizinische Abhandlung aus dem fernen China, ein Kompendium über die Volksheilkunde der Britannier und – Krönung des Ganzen – Andreas’ großartige Encyclopädie, fünfzig Bände, die gerade zur rechten Zeit für die Einweihungsfeier fertig geworden waren. Das Werk hatte Andreas harte Arbeit gekostet; es enthielt den gesamten Wissensschatz der römischen und der griechischen Medizin, von der
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