Seelenfeuer
bohren zu lassen, damit man eine Kette durchziehen und Selene die Rose als Anhänger tragen konnte. Diesen Morgen hatte der Goldschmied mitteilen lassen, daß die Halskette fertig war, und Mera war sofort losgegangen, um sie abzuholen, allerdings nicht ohne Selene vorher noch einmal zu ermahnen, die Gäste freundlich zu empfangen.
Gäste? dachte Selene mit einem Blick zur Tür. Was für Gäste? Wenn niemand kam, würde sie ihre Einkleidung ganz allein feiern müssen.
Sie dachte an die neue Stola, an der Mera viele Nächte lang gearbeitet hatte und die nun säuberlich gefaltet in ihrem Kasten lag. Der Stoff stammte von einem Karawanenführer, den Mera von einem hartnäckigen Husten geheilt hatte. Es war pflaumenblaue Baumwolle von feinster Qualität. Um den Saum der Stola und die Ärmel entlang hatte Mera hellblaue Blumen gestickt. Bei Sonnenuntergang würde Selene das lange Frauengewand das erstemal anlegen, und dazu die blaßblaue Palla, das lange Tuch, das die Frauen zu tragen pflegten.
Traditionsgemäß war es der Vater, der seine Tochter nach der Einkleidung als erwachsene Frau in die Familie aufnahm. Und es waren die Brüder, die ihr die Haarsträhne abschnitten, die dann den Hausgöttern dargebracht wurde. Doch Selene, die keinen Vater und keine Brüder hatte, würde von ihrer Mutter eingeführt werden; und ihre Mutter würde ihr auch das Haar nach Frauenart hochstecken, obwohl das eigentlich die Aufgabe der Schwestern war.
Mit Wehmut erinnerte sich Selene Esters Einkleidungsfeier im vergangenen Monat. So viele Gäste waren gekommen, so fröhlich war es zugegangen! Sechs Tanten, drei Schwestern und vier Cousinen hatten Ester in den oberen Raum im Haus ihrer Eltern begleitet, um ihr aus dem Jungmädchengewand in eine sonnenblumengelbe Stola zu helfen. Als sie herausgekommen war, war es ganz still geworden. Dann war ihr Vater auf sie zugegangen, hatte sie umarmt und geküßt und sie als erwachsene Frau in der Familie willkommengeheißen.
Nachdem alle sie mit lauten Freuderufen beglückwünscht hatten, hatten die Brüder sich um sie geschart. Mit dem Balbiermesser in der Hand hatten sie sie geneckt und so getan, als wollten sie all ihr Haar abschneiden, und Ester hatte sie kichernd und errötend abgewehrt. Dann folgte die feierliche Niederlegung der Haarsträhne auf dem Altar der Hausgötter. Später wurde Esters Haar in einen Behälter gelegt, in dem schon die Locken ihrer älteren Schwestern, ihrer Mutter und ihrer Großmutter verwahrt wurden.
Selene, die allein zu der Feier gegangen war, weil Mera zu einer Entbindung gerufen worden war, hatte lächelnd geklatscht, innerlich von Neid und Begehrlichkeit erfüllt. Auch Esters Verlobter war auf dem Fest gewesen, ein gutaussehender junger Mann, so gerade gebaut wie ein Pfeil, mit Augen so grün wie das Gras im Frühling.
Jetzt war Ester eine erwachsene Frau und hatte Anteil an allen Pflichten, die zum Bereich der Frauen gehörten – Spinnen, Weben, die Pflege des Hausaltars. Wenn sie jetzt die Straße hinunterging, verbarg der Saum ihrer Stola ihre Fesseln, und ihr Kopf war züchtig bedeckt von der Palla. Ester hatte mit Anmut und Würde das Jungmädchenalter hinter sich gelassen.
Ein Geräusch an der Tür veranlaßte Selene, sich hastig umzudrehen. Aber es war nur der Wind gewesen.
Selene war sich bewußt, daß ihre eigene Einkleidungsfeier vielmehr traditionsgebundene Formalität war als tatsächliches Überschreiten einer Schwelle von einer Lebensphase zur anderen. Da sie mit ihrer Mutter allein lebte, weder Vater noch Brüder hatte, hatte sie schon sehr früh die Pflichten einer Erwachsenen übernehmen müssen, hatte Spinnen und Weben gelernt, den kleinen Hausschrein der Isis versorgt und mehr noch: Sie hatte im Kräutergarten gearbeitet, Arzneien angerührt, ihrer Mutter bei der Behandlung der Patienten geholfen.
Dennoch tat dies der Bedeutung des Tages in Selenes Augen keinen Abbruch. Jahrelang hatte sie diesen Tag herbeigesehnt; seitdem sie als kleines Mädchen das erstemal einer solchen Feier beigewohnt hatte, zu der man sie nicht etwa eingeladen hatte, weil die Kinder aus der Nachbarschaft sie dabeihaben wollten – nein, die hatten sie längst zur Außenseiterin gestempelt –, sondern weil ihre Mutter Mera war, und man im ganzen Viertel die ägyptische Heilerin achtete. Auf jedem dieser Feste hatte Selene allein gestanden, abseits von den anderen, und hatte sehnsüchtig zugesehen, wie die jungen Frauen das begehrte lange Gewand und den Kuß
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