Seelenfeuer
eines stolzen Vaters in Empfang genommen hatten.
»Selene, Kind. Der große Tag ist da!«
Sie fuhr herum. An der offenen Tür stand die dicke Bäckersfrau.
»W-willk-kommen«, sagte Selene, klappte den Medizinkasten zu und ging der Gratulantin entgegen. »B-bitte k-k-«
Die Frau trat aus der glühend heißen Sonne ins schattige Haus und sah sich blinzelnd um. »Wo ist deine Mutter?«
»Ausgeg-g-«
»Ausgegangen?«
Selene nickte.
»An deinem großen Tag? Wohin ist sie gegangen?«
»M-meine Halsk-k-k-«
»Deine Halskette holen? Sie ist also fertig?«
Selene nickte wieder, wies zum Tisch und zum besten Stuhl des Hauses, den die Frau sogleich besetzte, nachdem sie sich eine Handvoll Oliven vom Tisch genommen hatte.
»W-wo ist –«
»Mein Mann? Er kann nicht kommen. Er hat’s wieder mit den Nieren.«
Selene war enttäuscht. Ihr lag nicht viel an dem Bäcker, aber er wäre ein Gast mehr auf ihrer Feier gewesen.
»Wann ist deine Mutter weggegangen?«
»Heute m-m –«
»Ah, heute morgen. Dann ist sie sicher bald wieder da. Es ist ja schon Mittag.«
Selene brauchte nicht an die Tageszeit erinnert zu werden. Bei Esters Feier war das Haus um die Mittagszeit so voll gewesen, daß die Gäste sogar auf der Straße standen.
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während die Bäckersfrau ihre Oliven schmatzte und die auf dem Tisch wartenden Speisen musterte. Selene wurde immer nervöser. Der Gedanke, es könnten überhaupt keine Gäste sich mehr einfinden, bedrückte sie. Wenigstens einige der Leute, die ihre Mutter im Lauf der Jahre behandelt hatte, würden doch kommen. Aber Mädchen ihres eigenen Alters erwartete sie nicht zu sehen.
Als Kind war Selene von den Straßenspielen ausgeschlossen worden, weil die anderen Kinder sie für schwerfällig und dumm hielten. Später wollten die Mädchen nichts mit ihr zu tun haben, weil die stotternde Selene immer noch ein bißchen armseliger gekleidet war als alle anderen in diesem Kleine-Leute-Viertel. Ihre Mutter, das war allgemein bekannt, gab ihr ganzes Geld für Arzneien aus, anstatt ihrer Tochter Kleidung zu kaufen. Die Cliquen halbwüchsiger Mädchen machten sich kichernd über Selenes schäbige Kleider lustig und über ihre Binsensandalen von der Art, wie sie nur die ärmsten Bauern trugen. Wenn sie sich ihnen näherte, schwiegen sie, und wenn sie zu sprechen versuchte, lachten sie verstohlen. Und als sie diesem grausamen Alter entwachsen waren, vielleicht die Reife gehabt hätten, Selene mit freundlicher Anteilnahme zu begegnen, war die Kluft so groß geworden, daß sie nicht mehr überbrückt werden konnte. Sie sei eine Komische, flüsterte man sich zu. Man hätte beobachtet, wie sie bei Mondenschein Kräuter pflückte; sie mache nie den Mund auf; und sie hätten doch alle miterlebt, wie sie über dem alten Kiko, dem ehemaligen Soldaten, der die Fallsucht hatte, mit geschlossenen Augen die Hände ausgebreitet hatte und wie sein Anfall plötzlich aufgehört hatte.
Es war einfach so, daß Selene, obwohl sie beinahe sechzehn Jahre lang in dieser überbevölkerten kleinen Straße gelebt hatte, unter ihren Leuten eine Fremde war. Wenn sie nicht zu ihrem Fest kamen, so nicht aus Unfreundlichkeit oder Abneigung gegen Selene, sondern weil es ihnen gar nicht in den Sinn gekommen wäre.
Doch ihre Mutter genoß allgemeine Achtung, und so kam es, daß doch einige Gratulanten sich einfanden: der junge Zeltmacher und seine Frau mit ihrem dreiwöchigen Sohn, die Witwe, die Mera regelmäßig wegen ihrer Gelenkschmerzen behandelte, der verkrüppelte Tuchwalker, dessen Bein Mera zu retten versucht hatte und der als Bettler auf dem Marktplatz saß, und der alte Kiko, der fallsüchtige Soldat. Ein jämmerliches Grüppchen gewiß, doch Selene war froh und dankbar, daß überhaupt jemand gekommen war.
Sie reichte gerade eine Platte mit Safrankuchen herum, als ein Schatten durch die Haustür fiel. Alle blickten auf, um zu sehen, wer der Neuankömmling war, und augenblicklich versiegten alle Gespräche.
Die Gäste, und Selene mit ihnen, starrten sprachlos den vornehmen Herrn an, der auf der Schwelle stand.
Andreas.
Selene zwinkerte, als könne sie ihren Augen nicht trauen.
Aber da sagte Andreas schon: »Man sagte mir, daß dies das Haus Meras der Heilerin ist.«
Die anderen blieben weiterhin stumm, doch Selene stellte die Kuchenplatte nieder und ging zu ihm. »Ja«, sagte sie, »d-das ist ihr Ha-haaus. W-willk-kommen.«
Jetzt war Andreas der Überraschte.
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