Seelenfeuer
»Du!«
Sie sahen einander wortlos an. Selene konnte noch immer nicht glauben, daß er leibhaftig vor ihr stand, dieser Mann, von dem sie seit drei Wochen träumte, und Andreas dachte, ich habe dich wiedergefunden, nachdem ich schon alle Hoffnung aufgegeben hatte.
Selene faßte sich endlich. »B-bitte k-k-« stammelte sie verwirrt und zornig, daß ihre Zunge ihr nicht gehorchen wollte.
Andreas trat ein.
»D-das sind m-meine F-f-freunde«, erklärte Selene und wies auf ihre sechs Gäste, die immer noch mit offenen Mündern dasaßen wie vom Donner gerührt.
»Ich bin Andreas«, stellte er sich vor, während jeder der sechs überlegte, wann das letzte Mal ein so vornehmer Herr ihre Gesellschaft gesucht hatte.
Der alte Soldat sprang hastig auf und bot dem Herrn seinen Hocker an, doch Andreas lehnte dankend ab.
Kleider, wie er sie trug, bekamen diese Leute höchstens einmal im Circus zu sehen, wenn sie aus der Ferne die Adligen in ihren privaten Logen bewunderten. Nicht einmal der Steuereinnehmer war je so erlesen gekleidet. Alle sechs Gäste bestaunten die lavendelblaue Tunika mit dem goldgeränderten Saum, die blütenweiße Toga, die ledernen Sandalen, die bis zu den Knien geschnürt waren, das gepflegte lockige Haar, den sorgsam gestutzten Backenbart. Wer mochte dieser elegante Herr sein, der Selene an ihrem großen Tag die Ehre gab?
Er wandte sich ihr zu. »Ich suche Mera. Ist sie deine Mutter?«
»Ja.«
Andreas nickte. Das Schicksal ging seltsame Wege. »Wie heißt du?«
»S-selene.«
Er lächelte. »Jetzt weiß ich, wer du bist.«
In den Händen hielt er einen schön gemeißelten Alabasterkrug, aus dem ein süßer Duft aufstieg, den sie alle kannten. Es war der Duft von Myrrhe, einer sehr kostspieligen medizinischen Tinktur.
Andreas übergab Selene das Gefäß und sagte leise: »Ich wollte es deiner Mutter bringen. Sie kam mir zu Hilfe, als ich verletzt war.«
Als sie scheu den Krug entgegennahm, berührten sich ihre Finger, und ein Zucken ging durch Selenes ganzen Körper. Hastig wandte sie sich ab, um das Gefäß auf ein Bord zu stellen, wo alle es sehen konnten, und fragte sich dabei, ob auch er den Blitzschlag gespürt hatte, hoffte es aus tiefster Seele.
Dann drehte sie sich wieder nach ihm um und sagte langsam, so deutlich, wie es ihr möglich war: »D-du warst verletzt?«
»Es geschah unten am Hafen. Vor knapp drei Wochen. Ein Schlag auf den Kopf. Und deine Mutter hat mich behandelt.«
Selene erinnerte sich der Nacht. Ein Schiffskapitän hatte ihre Mutter holen lassen.
Andreas trat einen Schritt näher. »Ich erwachte in einem fremden Zimmer«, berichtete er mit gesenkter Stimme, während er sie aufmerksam ansah. »Dort war ein Mädchen. Ich glaubte, sie wäre du.«
Selene, die wie gebannt war von seinem Blick und seiner Nähe, bemerkte nicht die verwunderten Blicke, die ihre Gäste tauschten. Andreas sprach so vertraulich mit ihr, als wären sie allein.
»Aber dann kehrte meine Erinnerung zurück, und ich sah, daß du es nicht warst. Ich fürchtete schon, ich würde dich nie wiederfinden.« Er hielt inne und sah ihr forschend in die Augen. »Erinnerst du dich an unsere Begegnung? Bei dem Unfall des Teppichhändlers?«
Sie nickte.
»Er ist wieder gesund und ist inzwischen nach Damaskus zurückgekehrt. Als er mir dafür dankte, daß ich ihm das Leben gerettet habe, sagte ich ihm, sein Dank gebühre einem Mädchen, dessen Namen ich nicht wüßte.«
Selene konnte nicht sprechen. Sie war gefangen im Blick seiner Augen.
Schließlich scharrten Stuhlbeine über den Boden, und jemand hüstelte. Wie aus einem Traum erwachend, sah Andreas auf.
»Aber ich störe«, meinte er. »Du hast Gäste.« Sein Blick fiel auf den reich gedeckten Tisch. »Ich komme ein andermal wieder«, fügte er hinzu und wandte sich zur Tür.
»Warte!« Selene legte ihm die Hand auf den Arm. »G-g-«
Andreas sah zuerst auf die Hand an seinem Arm, dann auf den schönen Mund, der sich mühte, die Worte zu bilden.
»G-g-geh n-«, stammelte Selene und verzog das Gesicht, als litte sie Schmerzen.
Andreas wartete.
»G-geh n-n-«
»Sie will dir sagen, daß du nicht gehen sollst«, bemerkte die Bäckersfrau.
Andreas warf ihr einen kühlen Blick zu. Dann fragte er Selene: »Was wird denn gefeiert?«
Selene runzelte die Stirn, zornig auf die Götter, die ihr diese Behinderung mitgegeben hatten. Es war eine Menge zu sagen: Heute ist mein Geburtstag. Ich bin sechzehn Jahre alt geworden. Heute ist meine Einkleidung. Als sie
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