Seelenfeuer
ihm ein neues Gedächtnis geben. Sie würde ihm sagen, sein Name sei – Titus. Ja, das war ein hübscher Name. Titus, das klang stark. Und sie würde ihm sagen, sie wären einander versprochen, sie hätten geplant, miteinander fortzugehen …
Die Hände zu Fäusten geballt, schwor sich Zoë, daß sie diesen Mann niemals von ihrer Seite lassen würde.
6
Voll Hoffnung spähte Selene die Straße hinauf und hinunter. Aber es kam niemand. Enttäuscht kehrte sie ins Haus zurück und nahm die Arbeit an ihrem Medizinkasten wieder auf. Er war gemacht wie der ihrer Mutter, aus Ebenholz, mit Elfenbeinmosaiken verziert. Er enthielt viele kleine Schubladen und Fächer für die verschiedenen Mittel und Instrumente, und hatte einen breiten Lederriemen, so daß sie ihn bequem über der Schulter tragen konnte. Mera hatte ihn ihrer Tochter zum sechzehnten Geburtstag geschenkt.
Die Einkleidungsfeier, jener alte Brauch, der noch aus der Zeit vor der Gründung Roms überkommen war, stand unmittelbar bevor. Selene würde die Kindheit zurücklassen und ihr Haar schneiden, um es Isis zu opfern. Danach sollte das Festmahl stattfinden, das Mera ausgerichtet hatte.
Selene hob den Kopf und sah bekümmert zum reich gedeckten Tisch hinüber. Auch das wollte der Brauch, daß bei der Einkleidungsfeier Freunde und Verwandte, die zum Gratulieren kamen, großzügig mit Speise und Tank bewirtet wurden. Bei Esters Fest im vergangenen Monat hatten sich so viele Gäste eingefunden, daß die Tische mit den Erfrischungen auf die Straße hinausgetragen werden mußten. Tagelang hatte Mera gebacken, hatte sogar zwei Enten gekauft, die sie sich eigentlich gar nicht leisten konnten, um den Gästen reichlich anbieten zu können. Viel zuviel wahrscheinlich, dachte Selene traurig, die nahe daran war, alle Hoffnung auf Gäste und Gratulanten aufzugeben.
Seufzend kehrte sie an ihre Arbeit zurück. Wie der Medizinkasten ihrer Mutter enthielt der ihre Verbände und Salben, Nahtmaterial und Nadeln, dazu einen Feuerstein. Jedoch keine chirurgischen Instrumente, da Mera es ablehnte zu schneiden. Das Messer im Medizinkasten diente nur zum Aufstechen von Geschwüren, die Nadeln dem Zunähen offener Wunden. Mit den Instrumenten, die Selene im Haus Andreas’ des Arztes gesehen hatte, ließen sich diese Werkzeuge nicht vergleichen. Er hatte bronzene Skalpelle gehabt, Klemmen, mit denen man die Blutgefäße stillegen konnte, Zangen zum Zerdrücken von Blasensteinen und viele andere Instrumente, deren Verwendungszweck Selene unbekannt waren.
Es mußte wunderbar sein, dachte sie, während sie ein Fläschchen mit Fingerhutextrakt an seinen Platz im Medizinkasten stellte, mit solchen Instrumenten arbeiten zu können. So geschickte Hände zu haben. Seit dem Tag drei Wochen zuvor, als Selene das Haus des griechischen Arztes verlassen hatte, war sie kaum fähig gewesen, an andere Dinge zu denken.
Aber natürlich galten ihre Gedanken nicht nur den interessanten Instrumenten, sondern vor allem dem Mann. Immer sah sie sein schönes Gesicht vor sich, und jeden Abend, bevor sie einschlief, durchlebte sie noch einmal jenen Nachmittag bei ihm.
Einmal, ungefähr eine Woche nach der Begegnung, hatte Selene ihren ganzen Mut zusammengenommen und sich auf die Suche nach seinem Haus gemacht. Aber sie hatte es nicht gefunden – ein Tor in einer Mauer, die wie jede andere Mauer aussah. Und sie hatte nicht den Mut gehabt, sich nach ihm zu erkundigen.
Als Selene draußen Schritte hörte, sprang sie auf und lief zur Tür. Aber es war nur ein Fremder, der vorüberging.
Mera hatte Geld leihen müssen, um die Speisen einzukaufen. Mit einem Tuch zugedeckt lagen auf einer Platte flache runde Brote, die man mit Oliven und Zwiebeln, mit Lammstückchen, Reis oder Honig füllen konnte. Von einem Bauern, dessen Sohn sie wegen eines Augenleidens behandelt hatte, hatte Mera drei große Käse bekommen, und den Wein, der in einer Amphore auf dem Tisch stand, hatte Mera dem Händler mit dem Versprechen abgekauft, seine ganze Familie das kommende Jahr hindurch kostenlos zu behandeln. Feigen, Äpfel, sogar einige kostbare Orangen waren da, liebevoll hingerichtet, vor Fliegen und Staub geschützt.
Sie werden kommen, versuchte Selene, sich zu trösten. Es ist ja noch Zeit.
Sie war allein im Haus. Mera war in die Straße der Goldschmiede gegangen, um die Elfenbeinrose abzuholen, die endlich fertig war. Sie hatte sie dem Goldschmied ein paar Tage zuvor gebracht, um in eines ihrer Blütenblätter ein Loch
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